Griebens Reiseführer von 1927 schreibt, der New Yorker Zivilist sei fast immer in Eile und bestrebt, nicht aufgehalten zu werden. Das gilt noch immer. An meinem ersten Tag stehe ich überfordert von der Speisekarte im Frühstücks-Deli. Leute strömen durch die Tür, drängen an mir vorbei, rufen Bestellungen durch den Raum, werden bedient und zahlen durch Vorhalten des iPhones, das sie ohnehin schon in der Hand halten, da sie parallel telefonieren: „This asshole called me ten times. He wants his money back. Who is this kek?“
Noch bevor die Tür ins Schloss gefallen ist, sind sie wieder draußen.
Für zwölf Dollar bekomme ich ein kleines Sandwich und Kaffee. Ich stolpere hinaus in die schwüle Hitze, laufe paar Blocks, setze mich in einen Park und atme durch. Als ich einen Schluck Kaffee nehmen will, stutze ich. Der Deckel des Bechers hat keine Öffnung. Man muss ihn an einer Lasche aufreißen. Unpraktisch, denke ich. Dann aber leuchtet es mir ein: Das Design ist darauf ausgelegt, dass man sofort ins Taxi springen oder zur nächsten Subway rennen kann, ohne etwas zu verschütten.
Während des Frühstücks sehe ich mich um. Im Hintergrund die Skyline von Manhattan, verschwommen im Hitzeflimmern. Sirenen heulen. Autos hupen. Niemand hat die Muße, zu spazieren. Nur eine Nanny, die drei Kinderwägen schiebt, und ein Dogwalker mit einem Rudel von sieben Hunden. Doch man lasse sich nicht täuschen. Ihre Ruhe ist bloß Gegenstück zur Geschäftigkeit der Eltern und Hundebesitzerinnen, die gerade in irgendeinem Hochhaus durch endlose Büro-flure hasten. Gestärkt vom Kaffee will ich wagen, ihren Pace aufzunehmen.
Die nächsten Tage vergehen im Flug. Zeit, innezuhalten, ist nicht. Betritt man einen Fußgängerüberweg, gemahnt die Ampel sogleich zur Eile: Der Timer gibt zwanzig Sekunden, um acht Spuren zu überqueren. Bauarbeiter balancieren in schwindelerregender Höhe durch offene Etagen. Hubschrauber kreisen über der Stadt. Ohrenbetäubend rattern Hochbahnen über Stahlbrücken. Auf den Kreuzungen staut sich Verkehr. Alle Autos haben Dellen und Kratzer. Einen Pöller mitzunehmen ist im Zweifel billiger, als zehn Minuten zu verlieren. Aus den Gullys quillt heißer Dampf. Zu jeder Zeit hört man Sirenen. Der längst dagegen abgestumpfte New Yorker lässt sich von heranrasenden Polizeiwagen nicht abhalten, rote Ampeln zu queren. Er versteht Blaulicht lediglich als Aufforderung, schneller zu laufen. Angehalten wird nur, um nachzutanken. Das gilt für Passanten wie für Autos. Die New Yorker Delis, an jeder Ecke zu finden, sind dafür die erste Anlaufstelle. Selbst bei den horrenden Preisen ist Kaffee stets für einen Dollar zu bekommen. Billiger als Wasser. Überhaupt: Benzin und Kaffee sind die einzigen Güter, die es hier günstiger gibt als in Deutschland.
Aufgekratzt und ohne klares Ziel irre ich umher. Von Upper East Side zur Manhattan Bridge, durch Chinatown, über Wallstreet, Broadway, Times Square, vorbei am Trump Tower und über die Queensboro Bridge nach Long Island City. Laut Health-App mache ich im Schnitt 40.000 Schritte pro Tag. Doppelt so viel wie bei einem ausgedehnten Spaziergang durch Köln. Doch das reicht nicht. Während mich in Deutschland Freundinnen oft für meinen Stechschritt kritisieren, bin ich hier der Langsame. Von allen Seiten überholen Leute, die Geschäftsanweisungen in ihre AirPods diktieren: „No! We‘re waiting for your invoice! We‘re waiting for you!“
Wer auch immer die Person am anderen Ende der Leitung ist, sie hat einen schrecklichen Faux-Pas begangen: Einen New Yorker warten lassen.
Beim Überqueren eines Zebrastreifens, werde ich von einer Fahrradfahrerin angefahren.
„Watch it, man!“, brüllt sie mich an. Laut Verkehrsordnung liegt der Fehler bei ihr. Dennoch ist es meine Schuld. Sie wird meine Laufbahn anhand der durchschnittlichen New Yorker Geschwindigkeit kalkuliert haben und zu dem Schluss gekommen sein, dass ich zum Zeitpunkt des Einbiegens längst auf der anderen Straßenseite angekommen bin. Was kann sie dafür, dass ich so lahm bin?
Tempo ist auch in sozialen Begegnungen die Devise. Zu einem kurzen, im Gehen abgewickelten Smalltalk zeigt sich jeder bereit.
„Is this your first time in New York?“
Sofort werden Empfehlungen heruntergerattert: Russ and Daughters is great. You gotta check out Robertas Pizza in Bushwick. Golden Dragon in Chinatown. Rippers at Rockaway Beach. Ice cream at Brooklyn Bridge Park. Did you take the ferry? Man, you gotta take the ferry. Stella, die im Flugzeug neben mir saß, schrieb mir gleich eine Liste. Jim, der Modedesigner, den ich in Soho treffe, meint, ich müsse unbedingt in Chelsea abhängen: Da sei die Kunst.
„Gotta go“, sagt er und verschwindet im Eingang eines Hochhauses. „Take Care“. Damit enden die Konversationen.
Auch mein Mitbewohner Lewis ist dauernd in Eile. Seit elf Jahren lebt er in New York, doch wohnt in einem Airbnb. Er arbeitet als Dietitian, erstellt Speisepläne für Krankenhaus-Patientinnen. An Tag drei unserer Bekanntschaft zieht er bereits in ein anderes Apartment um. Das tut man hier wochenweise. Ich biete an, zu helfen, doch bin nicht schnell genug da, um nützlich zu sein. Nach anderthalb Stunden ist alles Wesentliche rüber geschafft. Lewis packt für die zweite Tour letzten Kleinkram ein. Eine ungeöffnete Palette mit Instant-Nudeln.
„That’s an interesting diet for a dietitian.“, schäkere ich. Ja, antwortet er, die habe er gekauft, um mal zu Hause was zu kochen. Dazu gekommen ist er offenbar nie.
„That’s it.“, sagt er. Sein Lyft wartet schon unten. „Take care.“
In Harlem lerne ich Eugene kennen. Er bittet um eine Zigarette.
„You roll em?“, fragt er erstaunt und grinst. „But you put weed in em, right?“
Drehen ist in New York eine Kuriosität. Man raucht Fertige, obwohl die Schachtel siebzehn Dollar kostet – das Äquivalent in Tabak nur drei. Doch rechnet man fürs Drehen dreißig Sekunden, ist man gegenüber der Schachtel zehn Minuten im Nachteil. Wer gewohnt ist, in Intervallen von Börsenkursschwankungen zu denken, darf das nicht in Kauf nehmen.
Ich lade Eugene auf einen Kaffee ein. Vierzehn Kinder hat er, von vierzehn verschiedenen Frauen. In den letzten zwanzig Tagen bekam er nur sechs Stunden Schlaf. Damit scheint er mir der typische New Yorker zu sein. Allein die Ruhe, die er ausstrahlt, passt nicht ganz ins Bild. Er spricht vernuschelt, mit sonorer Stimme, fällt in Sekundenschlaf, wenn ich zu lang für eine Antwort brauche.
„Wanna try some crack?“, fragt er mich.
„No, I‘m good.“
Es stellt sich heraus: Der entspannteste Mensch, dem ich bislang in New York begegnet bin, ist auf Crack-Kokain. Wir unterhalten uns noch über die hiesigen Preise. Fünfzehn Dollar für eine Tube Zahnpasta. Dann werde ich ungeduldig mit seiner gelassenen Art.
„Gotta go.“, sage ich und mache mich auf. Als der Ampel-Timer nur noch vier Sekunden zählt, beschleunige ich. Die Gruppe vor mir bleibt unerwartet stehen. Ich rempele in einen Typen.„Watch it, man!“, fahre ich ihn an. Eine Sekunde später bin ich schon auf der anderen Straßenseite. „Hast du die Datei bekommen?“, diktiere ich in meine AirPods, nehme einen Schluck Kaffee, haste die Treppe zur Subway hinab, halte mein iPhone gegen den Scanner, laufe durchs Drehkreuz und erwische gerade noch rechtzeitig den E Train nach Jamaica.