Ein Tisch mit einem Computer und vielen Cola-Flaschen

Vor zweieinhalb Monaten nachts in einer Bar überfällt mich ein Anflug von Cyber-Sentimentalität. Was genau ihn auslöst, kann ich nicht sagen. Ist es der FutureSex / LoveSound? Sind es die zurückkehrenden 00er Jahre Styles – Strass besetzte Bauchnabel-Piercings, Crop-Tops und low waist Jeans, unter deren Bund Calvin Klein Slips hervorlugen?

Jedenfalls habe ich auf einmal Sehnsucht nach den Zeiten von MSN, ICQ und Habbo-Hotel. Vor meinem inneren Auge laufen Chat-Abkürzungen in flashigen 2000er Schriftarten ab: afk cu l8er qt. Warnmeldungen, den Adobe Flash Player zu aktualisieren. Noch vor Ort und Stelle richte einen Account bei der Chatplattform Knuddels ein. Es braucht nur einen Nicknamen und Passwort. Alles wie früher: Keine E-Mail-Adresse oder Handynummer, keine Zweifaktorauthentifizierung. Ich wähle denselben Nick, den ich mit dreizehn hatte: TommyBoy2222. Ein schrecklicher Name. Dass es sich bei den vier Zahlen, die damals alle hinter ihren Nicks hatten, um das Geburtsjahr handelt, hatte ich offenbar mit dreizehn nicht begriffen.

Ich lande im Channel Flirt 2, erzähle von meinem Abend im Club, erhalte ein wenig Aufmerksamkeit. Warum ich denn zum Rauchen vor die Tür ginge? Eine Diskussion über Nichtraucherschutzgesetze entbrennt. Dann bekomme ich meine erste private Nachricht:

> hinter dir schneit es, hansi

> sei brav.

Da ich die Person für einen Troll halte, antworte ich etwas kess, „über dir regnet‘s“, werde dann gefragt, ob ich provozieren wolle.

> Nein. Willst du mich provozieren?

Zur Antwort erhalte ich ein drohendes „ich weiß wer du bist“. Mein Herz schlägt ein bisschen schneller. Wer ich denn sei, will ich jetzt wissen.

> du hast viele gesichter

Mir wird eine Bilddatei gesendet, die ich erst ansehen kann, wenn ich darauf klicke. Aus Angst vor dem Inhalt unterlasse ich das. Das Gespräch wird mir tatsächlich unangenehm und ich erkläre, dass ich gerade zum ersten Mal seit zwölf Jahren online sei. Was ich denn falsch gemacht habe. Das wisse ich genau, wird mir gesagt.

> du stalkst frauen

Es müsse sich um eine Verwechselung handeln, beginne ich zu rechtfertigen. 

> ist dir bewusst dass du gerade mit der chefetage schreibst?

> hinter dir schneit es vpn-trolle

Auch wenn ich nur die Hälfte verstehe, scheint mir, dass ich über das icloud-private-relay eine IP-Adresse mit einem Stalker teile. Eine Andeutung der Schattenseiten der Plattform. Auf dem Heimweg in der Straßenbahn verfolge ich noch den öffentlichen Chat. Die Gespräche über Autos langweilen schnell und ich bin sicher, hier nicht alt zu werden.

Erst zweieinhalb Monate später lösche ich mein Profil mit mittlerweile über 12.000 Online-Minuten, Family-Mitgliedschaft, Moderatoren-Status, virtuellem Herz, Rose, Plastikringen, Mentorenpunkten, hunderten Knuddels und Knutschflecken.

Das Chatten ist ausgeufert. Ich habe das gesamte Programm mitgemacht. Bin etliche Male erst um 10:00 Uhr morgens ins Bett gekommen, bin Montags, ohne überhaupt geschlafen zu haben, ins Büro, habe acht Stunden im Delirium auf den Bildschirm gestarrt, appetitlos im Kantinenessen gestochert, Flüchtigkeitsfehler in Bereichen gemacht, wo sie mir sonst nie unterlaufen, um nach Feierabend sofort wieder on zu kommen und bis 06:00 Uhr weiter zu chatten.

Völlig unironisch habe ich romantische Gefühle entwickelt, Cyber-Sex gehabt, Halfnudes versendet, 130 Euro für Pseudocoins bezahlt, meinen Klarnamen und meine Telefonnummer an Fremde aus dem Internet herausgegeben. Völlig unironisch empfinde ich Wehmut, Trauer und Schuldgefühle, als ich die Löschung meines Profils bestätige. James, der Chatbot-Butler, fragt per E-Mail, ob ich es mir nicht anders überlegen will. Purr, mein e-girlfriend, schickt eine iMessage, sie müsse gerade so heulen. So weit bin ich zwar nicht, doch es fehlt auch nicht viel.

Im Reallife sind mir Textnachrichten zuwider. Selbst SMS von guten Freundinnen fühlen sich oft an wie Arbeit. Ich lese sie, nehme mir vor, später zu antworten, und verschleppe es so lange, bis ich anfange, mich schlecht zu fühlen.

Nicht so auf Knuddels. Hier schreibe ich neun Stunden am Stück parallel mit drei Personen, oft über tausend Nachrichten pro Nacht, und rangiere dabei in der überreizt emotionalen Gefühlspalette eines Teenagers.

Begleitend höre ich deutschen 90s Elektropop mit Acid-Basslines, der thematisch ganz oben auf der Welle des ersten Cyber-Rushs reitet: Urlaub Auf Der M.S. DOS, Sehnsucht@Herz.de, Computerliebe.

1999, im Gründungsjahr von Knuddels, fing ich auf einem Karnevalszug neben ChupaChups und Tattookaugummis eine Single-CD der Künstlerin Das Modul. Zum Leidwesen meiner Eltern lief der hyperaktive EDM-Hit Frühlingsgefühle bald in Dauerschleife. Mehr als zwei Jahrzehnte später, kurz vor Sonnenaufgang, ist das wieder genau mein Vibe.

Während ich im Sekundentakt zwischen Chats hin und her wechsele, purr schreibe, dass sie mir feels gibt, LunaLoveGood ermahne, sie solle nicht so frech sein, und Edelstein60w beschwichtige, dass mir der Schlafmangel nichts ausmache, fiepst eine hochgepitchte Frauenstimme über cheesy Panflöten-Synthesizer und Breakbeats: Mein Herz explodiert, mein System ist irritiert – Frühlingsgefühle sind programmiert.

Jetzt bin ich im Flow. AW :3, antwortet purr, Luna schreibt, TUT MIR LEID DADDY – ich mache die Musik etwas lauter, wippe unruhig mit dem rechten Bein, GLAUB ICH BIN EIN BISSCHEN VERLIEBT IRL OMG ICH AUCH <3. Ich schaue nicht auf die Tasten, nicht auf die Uhr, BIN SO SÜCHTIG NACH DIR LOL, sehe 1920 mal 1080 bunte Lichtpunkte auf einmal und außerhalb davon nichts. Während ich im einen Chat tippe, JETZT WIRST DU ABER THIRSTY, habe ich im anderen schon die nächste Antwort, WIE SÜß DU BIST :3. Mein Herzschlag stürzt mit der Bassline um eine Oktave ab, DU KRIEGST MEINE PUSSY DADDY FML UNNORMAL WAS IN MEINEM KOPF ABGEHT GERADE HAHA OMG ZIEHE DANN EIN KLEID AN DAMIT DU SOFORT IN MICH EINDRINGEN KANNST WILL NIE WIEDER SCHLAFEN EINFACH IMMER WEITER MIT DIR SCHREIBEN – ich bin lovedrunk, gleichzeitig hellwach und wie im Schlaf: Es fühlt sich an, als schwitzte ich pure MDMA-Kristalle.

Am nächsten Tag erwache ich verkatert aus einem unruhigen, dreistündigen Schlaf, mit der Frage: Wie bin ich an diesen Punkt gelangt?

Nachdem sich der Channel Flirt an Tag zwei meiner virtuellen Reise als Echokammer sexueller Frustration erweist „attraktive w die füße zeigen schreib mir bitte bitte mache dich zu meiner lady“ -, werde ich Stammkunde im Kaffeehaus. Hier hält eine vertraute Runde älterer Menschen um die 60 digitalen Kaffeeplausch.

> Edelstein60w bringt TommyBoy2222 einen doppelten Espresso: Immer noch jetlag? gg

Man plaudert über den Tag, das allgemeine Befinden, Lebenserfahrungen. Hin und wieder macht jemand einen Exkurs ins Persönliche, erzählt vom Tod der Eltern, einer Krankheit oder Trennung. Ronja1997, mit 25 Jahren die jüngste Stammkundin, ist gerade im achten Monat schwanger.

So lerne ich die Bewohnerinnen der Parallelwelt Knuddels näher kennen. Bald bin ich up-to-date, an welchen Tagen sie Nachtschicht arbeiten, wann der gefürchtete Gerichtstermin ansteht oder Ronja1997 ihren Kaiserschnitt hat. Es sind Leute, mit denen ich sonst kaum in Kontakt komme: Lagerarbeiterinnen, Krankenpfleger, Erwerbslose, Rentnerinnen, Taxifahrer, Friseurinnen, Hausfrauen, Maler und Lackierer. Ihre Gründe, hier zu sein, sind vielfältig. Sie reichen von Langeweile, über Einsamkeit, Spielsucht, Freundschaft, erotische Sehnsüchte, Realitätsflucht, Dating-Absichten bis hin zu therapeutischen Bedürfnissen. Manche, die wegen psychischer Probleme oder körperlicher Behinderung am Alltag nur eingeschränkt teilnehmen können, suchen ihr Sozialleben hier im Chat.

Später in der Nacht, wenn sich das Kaffeehaus leert, ziehe ich um in den Channel Picasso, in dem man Begriffe zeichnen und erraten muss. Es geht um das Spiel, nicht um Flirts. Aber man kennt es: Gerade dort, wo man keine romantische Anbahnung sucht, passiert was? Genau: Man fängt an zu sexten.

Nachdem ich im öffentlichen Chat etwas von Agitation daherrede, erhalte ich eine private Nachricht von purr. Ihren Wunsch nach politischer Aufwiegelung  erfülle ich nicht. Dafür agitieren wir uns einige Stunden später auf der Ebene basaler menschlicher Triebe.

Fortan schreiben wir fast jede Nacht, haben Deeptalks, flirten, albern herum, spielen zusammen Picasso, schenken uns unsere digitalen Herzen – und ich verknalle mich ein bisschen in sie.

Ein Computer der auf Knuddels eingeloggt ist

Mittlerweile bin ich Mitglied einer Online-Girls-Gang um purr, die mich bei Beef in Schutz nimmt. Ich bin so verstrickt in die sozialen Strukturen, dass nach einem Tag Abwesenheit Zusammenfassungen des Geschehens in meinem Postfach warten.

> Cherry1980 schreibt jetzt privat mit StillAlive, aber erwähn das nicht vor xRosalix.

> Heute morgen hat purr hier eine Rose von einem gewissen KohlrouladenSommelier geschenkt bekommen. Das wäre dann Nummer 4?

Purr ist so beliebt, dass ich zum Gegenstand kleiner Eifersuchtsszenen werde. Leute sind gekränkt, weil sie ihr Herz an mich vergeben hat. Nachvollziehbar. Sie hat dieses energetische Chat-Charisma, schreibt so cute und smooth. Mir würde es genau so ergehen. Tatsächlich werde ich gelegentlich selbst eifersüchtig. Mit wem textet sie gerade, dass sie mir nicht antwortet?

Nun, was will ich mir vormachen. Knuddels ist kein Defibrillator für das, in irgendeinem Berliner Technoclub unter Einfluss moderner Designer-Sexdrogen Herzinfarkt erleidende Konzept der Monogamie. Zwar betreibe ich abseits des Chats mit purr lange nur braves Kaffeehaus-Geplauder. Doch irgendwann werde ich LunaLoveGood als „Mentor“ zugeteilt – eine Verkupplungsfunktion der Plattform – und wir geraten in eine Cyber-Sex-Eskalationsspirale.

Es ist ein Thrill, der schnell Dosis-Steigerungen verlangt. Als Dirty-Talk nicht mehr reicht, fangen wir an, uns Bilder zu schicken. Als Bilder nicht mehr reichen, haben wir Telefonsex.

Meine bisher einzige Erfahrung mit dieser in Vergessenheit geratenen Selfcare-Praxis hatte ich im Alter von fünfzehn. Für eine Minute Warteschleife wurden meinen Freunden und mir 70 Euro in Rechnung gestellt. Aus der Nummer mussten uns dann peinlicherweise unsere Eltern wieder rausboxen. Lektion gelernt: Ich ließ die Finger davon. Doch dieses Mal ist die Experience legit. Während wir einander plastisch beschreiben, was wir jetzt gerne anstellen würden, lauschen wir auf den schwerer werdenden Atem am anderen Ende der Leitung.

Erst um 07:30 Uhr morgens trifft uns die Post-Nut-Clarity. Am Telefon voreinander masturbieren? Mit einer im Grunde fremden Person von Knuddels?

> like wtf?!

> lol…

Luna und ich malen uns aus, wir wären in den letzten Stunden von einer Reality-TV-Show begleitet worden, belachen, wie das für Außenstehende wohl ausgesehen haben muss. 

Doch auch mit nüchternem Kopf schäme ich mich eigentlich nicht: Ich würd’s wieder tun.

Der Autor Leonard Prandini sitzt vor einem Computer und telefoniert.

Scham empfinde ich erst, als ich „Knuddel“ für echtes Geld kaufe. Es ist die Nacht nach Heiligabend. Irgendwie ist niemand on. Doch ich will dieses Flow-Gefühl der letzten Sessions zurück. Indessen ich mir selbst erzähle, dass ich die Knuddel nur kaufe, um der Gang damit Weihnachtsgeschenke zu machen, stürze ich in Wahrheit im Glücksspiel-Channel Crash ab. Die 750 Knuddel, die ich für 30 Euro bekomme, sind in einer halben Stunde weg. Ich lege nach, kaufe „um zu sparen“ nun direkt für 100 Euro. Doch auch die halten nicht lange.

Schließlich komme ich zur Vernunft. Ein suchtaffiner Mensch wie ich sollte sich misstrauen, wenn er – als fast Dreißigjähriger – impulsive Chat-Exzesse auf Knuddels als gewöhnliches Freizeit-Vergnügen abtut. Er sollte an sich zweifeln, wenn er die selbstgesetzten Zeitlimits ständig nach hinten verschiebt und dabei behauptet, er täte es für die Arbeit – schließlich wolle er am Ende ja darüber schreiben. Doch wenn er anfängt, 100-Euro-Paysafe-Karten für ein Spiel zu kaufen, bei dem man nichtmal echtes Geld gewinnen kann, muss er einen klaren Cut machen: Das war’s für mich mit Knuddels.

Ich schreibe ein paar Abschiedsnachrichten. Dann lösche ich mein Profil, vernichte auch die Notiz mit den Zugangsdaten und schließe das Fenster. Ich lehne mich im Stuhl zurück und starre auf den leeren Bildschirm.

Es fühlt sich komisch an. Ein bisschen, als sei die Schulzeit vorbei. Ein Abenteuer, eine Ära. Es war viel mehr, als ich anfangs erhofft hatte. Meiner Cyber-Sentimentalität wurde Raum gegeben.

Obwohl mir die Zeit in diesem Kosmos nicht verschwendet vorkommt, bin ich erleichtert, am Ende doch nur Tourist gewesen zu sein. Für meinen Schlafrhythmus ist der Einschnitt auch dringend nötig. Morgen, nehme ich mir fest vor, gehe ich endlich zu einer vernünftigen Zeit ins Bett.

Am nächsten Abend kommt jedoch eine iMessage von purr. Wir haben ihn noch nicht verloren, unseren Vibe. Als wir uns gute Nacht wünschen, ist es 09:58 Uhr. Die Sonne längst aufgegangen. Aber immerhin: Auf Knuddels wären wir jetzt sicherlich noch zur Afterhour ins Kaffeehaus umgezogen und erst viel später ins Bett gekommen.