Zurück von der Leipziger Buchmesse – dazu die Tage mehr – hat mein guter Freund und Reisebegleiter Thomas Empl soeben eines der Dieter-Wellershoff-Stipendien der Stadt Köln gewonnen. Die Jury begründet wie folgt:
Das Ende der Welt, wie wir sie kennen, ist das Thema von Thomas Empls Erzählungsband „Der Gebrauch nackter Flammen“. Mit einem breiten Ensemblean Figuren schildert er, mit welchen Absurditäten, Verzweiflungstaten und selbstausbeuterischen Arbeitsverhältnissen Menschen konfrontiert sind, wenn ihnen die Mittel zur offenen Revolte genommen sind. Thomas Empl illustriert diese Dilemmata durch genaue Beobachtungen und mit raffinierten Plot-Twists, die dem Ende der Welt eine Menge Humor abtrotzen können.
https://www.stadt-koeln.de/leben-in-koeln/kultur/kulturfoerderung/67057/index.html
Sein zweiter Erzählband soll Ende des Jahres in der parasitenpresse erscheinen. Sie lesen hier nun ein E-Mail Interview, das ich anlässlich der Hypertext-Tour im letzten Sommer mit ihm führte.
Für deinen ersten Roman bist du in Bologna gewesen. Diesen Sommer verbringst du in Wien. Was machen Ortswechsel mit deinem Schreiben?
Halt, warten Sie! Noch bin ich in München, auf Durchreise nach Wien. Meine beste Freundin und ich waren dort gestern Abend im Beverly Kills, einem Hip-Hop-Club im Glockenbachviertel, den wir mit Anfang zwanzig oft besucht haben. Angenehmerweise war alles dort exakt so, wie wir es vor sechs Jahren zurückgelassen haben. Die geschmeidigen Barkeeper, der Schnaps aus Plastikbechern, die Musik, welche der DJ in der genau gleichen Reihenfolge auflegte wie früher. Um drei Uhr kommt Still D.R.E., so hat es zu sein. Sogar die Leute waren die gleichen, nur sechs Jahre gealtert, was allen mit einer enormen Lässigkeit gelungen ist.
Das führt jetzt insoweit zu Ihrer – ich sieze Sie jetzt einfach mal, da Sie mir keine Anrede und keinen Namen zukommen haben lassen – Frage zurück, als dass ich vielleicht auch in Stadtbeschreibungen versuche, bestimmte Zeiten oder Stimmungen festzuhalten. Natürlich zurrt man da viel zusammen, reduziert komplexe Systeme auf auffällige Eigenschaften (die Kölner Unwirtlichkeit, die Gastfreundschaft von Bologna, die Verlorenheit, die Tokyo auslöst etc.), aber solche (konstruierten) Abbildungen von Städten mit Figuren zu kombinieren, die damit irgendwie einhergehen oder clashen – das gibt mir viel. Mehr, als wenn die durch namenlose Straßen oder Phantasieorte laufen würden.
Das nur auf die Schnelle, ich muss jetzt leider los, die New Yorker Geschäftigkeit ist auch dem Münchner nicht fremd. Gerne bald mehr dazu!
Kölner Unwirtlichkeit wird in deinem Erzählband Ausbruch und Kurzgeschichten wie Am Horizont Leverkusen oder Klettenberg Plastic Rain spürbar. Worin besteht sie? Ist dieser Blick auf Köln eine Perspektive deiner Figuren oder clashst du auch persönlich mit dieser Stadt?
Ach, der Prandini ist das. Das ist doch dieser blutjunge blonde Feschak vom Deli Grind in New York! Dir schreib ich gern, auch wenn ich nun in einem von hypernervösen Menschen überfüllten ÖBB-Railjet sitze, dauernd zusammenzucke, jemand könne meinen Platz einfordern. Kinder schreien, scheppernde Durchsagen bieten sogenannte köstliche Erfrischungen feil, Ungarn trinken Dosenbier, Bayern fluchen.
Meine privaten Zusammenstöße mit der Stadt Köln sind eher banal und literarisch uninteressant: fehlende Fahrradwege, nicht funktionierender Nahverkehr, das Wetter. Die führen nur zu Grant, der wahrscheinlich keinen längeren Text tragen könnte. Und fünf Jahre in einer Stadt zu wohnen, die mich nur aufregt – so masochistisch bin ich nicht.
Aber es gibt gewisse Vorgänge und Phänomene in Köln, die größere, soziologische und ökologische Probleme symbolisieren können. Die zu beobachten und anzuordnen erscheint mir literarisch reizvoll. Die nach dem Krieg falsch geplante, überholte Autostadt, die sich den Konzernen des bald obsoleten Individualverkehrs und den raffgierigen Immobilienholdings unterworfen hat. Die Endzeitstimmung, die dadurch ausgelöst wird, die graue Abgasglocke, die den Himmel verdeckt, die verbrannten Grünflächen, die blutenden verunglückten Radfahrer, die in der Zülpicher Straße dauernd in die Schienen kommen. Wie geht man damit um, als machtloses Individuum? Das bringe ich mit unterschiedlichen Figuren zusammen, die darauf reagieren – wütend, trauernd, apathisch oder sich vielleicht im Angesicht der Apokalypse auf etwas Wesentliches besinnend. Es gibt ja auch eine Form des Zusammenhalts, die die Stadt Köln auslöst. Wenn die Bahnen nicht kommen, trinkt man halt noch ein Kioskbier zusammen, geht zu Fuß und kriegt was erzählt. Und eine gewisse Kaputtheit bringt oft interessante Menschen mit sich – oder ist das eine Klischeeansicht? Aber die Erzählungen, auf die Du referierst, die könnten in einer schönen langweiligen Stadt nicht spielen, die würden da konstruiert wirken und nur auf sich selbst deuten. In – sagen wir – Münster wären die für mich nicht vorstellbar.
Die acht Erzählungen in Thomas Empls Debütband Ausbruch ziehen unvermittelt in ihren Bann und in ihre kleinen Welten, zu den Boxern und Sportlern, zu Leuten auf der Suche, zu Leuten auf der Flucht, die den Ausbruch wagen. Manche scheitern, werden müde, manche haben Glück und kommen frei. In den Texten steckt Energie und Kraft, aber auch viel Reflexion über das Leben und ein Batzen Liebe zu den Personen und Dingen. Uns erwartet die Zartheit eines Faustschlags.
Deine Geschichten sind sehr gegenwärtig und konkret. Wenn Musik läuft, benennst du sie auch. Still D.R.E. Welche Funktion übernimmt Popkultur in deinen Texten?
Ich zweifle jetzt schon den ganzen Morgen, ob Still D.R.E. so ein gutes Beispiel war. Das ist ja sicher immer noch (still!) in den Top10 der am meisten gespielten Tracks um drei Uhr nachts, von Kalk bis Cannes. Wahrscheinlich hätte ich besser auf den Nullerjahre-R&B hingewiesen, der immer noch im Beverly Kills läuft, obwohl diese Art der Musik im Jahr 2022 so nicht mehr produziert wird und ihre Künstlerinnen (Kelis, Ashanti, Ciara) verschwunden sind.
Nun, also. Ich weiß leider nicht so ganz, was Du mit Popkultur meinst, bzw. habe ich das Gefühl, mir fehlt ein gewaltiger theoretischer Unterbau. Ich versuche mich dem mal zu nähern: Speziell in der Literatur wurde der Begriff, vermute ich, in den 80ern und 90ern erstmal pejorativ verwendet. Hier sind unsere Großen, Grass, Böll, Walser, das ist Literatur – und diese kleinen, fiesen Trinker wie Kracht oder Goetz, die machen nur Popliteratur. Dabei war das, was die Jungen beschrieben haben, halt die neue Gegenwart. Der Alltag der sogenannten Generation X, der – Zitat David Fincher – ersten Generation, die voll und ganz unter dem Einfluss des Fernsehens aufgewachsen ist. Also mit einer Reizüberflutung, die es vorher nicht ansatzweise gegeben hatte, als es drei Fernsehsender gab und fünf Tageszeitungen.
Und das ist inzwischen eben alles noch viel härter geworden. Hier in Wien ist grad zehn Uhr, und ich hab u.a. schon Trump, Anthony Modeste, fünf Meinungen zu Anthony Modeste, Emine Sevgi Özdamar, die mögliche Großoffensive der Ukraine, Tekken 8 und die Tracklist des neuen The-Game-Albums im Kopf. Und und und. Jetzt rechne da noch Social Media drauf, dem ich mich weitestgehend erfolglos fernzuhalten versuche. Mayhem.
Wenn wir einen breit gefächerten Pop-Begriff verwenden würden, wär das wohl alles schon Pop. Pop around the clock. Wie also gegenwärtig schreiben ohne Popkultur bzw. warum, wäre das nicht gekünstelt, verlogen? Die Funktion der „Popkultur“ in meinen Texten wäre demnach ganz banal: Gegenwärtigkeit herzustellen bzw. festzuhalten, durch ihre Nennung den Prozess zu unterstützen, über den wir bei der ersten Frage geschrieben haben.
Und dennoch kann man meinem ausufernden Gelaber zuvor schon entnehmen, dass es damit nicht gesagt ist. Generell auch eine Schwierigkeit unserer gegenseitigen Interviews: Einen 30-jährigen Schreiber zu seiner Poetologie zu befragen ist bisschen so, wie einen 17-Jährigen zur Liebe zu befragen. Klar, er hat was zu sagen und wird das voller Enthusiasmus tun. Aber sollte er an diesem Punkt seines Lebens nicht lieber einfach nur machen?
Trotzdem noch ein P.S.: Das Nennen von Songtexten oder anderen „popkulturellen“ Markern muss natürlich auch zur Figur passen. Wenn ich über meine Mutter schreiben würde, würde die weder Still D.R.E. kennen noch Darth Vader zum Beispiel. Dafür könnte die in dem sehr schönen Wiener Beisl „Das Lange“ sitzen und hätte Gedanken zu der klassischeren Musik dort, wo ich mir gestern nur dachte: „Hm, schöne Musik“, und mich dann nicht getraut hab, die elegante Wirtin, Frau Rachel Platzer, danach zu fragen. Und weiter gibt es durchaus auch Texte, in denen ich gar nichts zur Musik schreiben würde. Ich schreibe gerade an einem Text, der eher von der Odyssee ausgehen will als von – z. B. – Kendrick Lamar. Ich mag mich da nicht festlegen.
Dieser von der Odyssee ausgehende Text, an dem du gerade schreibst: Wovon handelt er? Und kannst du schon etwas über das Format sagen: Wird es ein Roman?
Ganz knapp und ohne Gewähr: Es geht um einen deutschen Mann namens Joseph, der in einem Chevrolet Impala durch mythenlose amerikanische Geröllwüsten fährt und in Motels absteigt, um dort Audio-Pornographie aufzunehmen. Grundlage sind Gedanken über (schädliche) Nostalgie, über Abstinenz und Abkehr, über Heimat, Einsamkeit, Amerika (wo ich im Gegensatz zu Dir leider noch nie war) und dieser Satz der französischen Philosophin Barbara Cassin aus einem Essay über die Odyssee: „Zur Definition der heidnischen Welt würde ich folgendes Kriterium vorschlagen: Es handelt sich um eine Welt, in der jeder, der vor einem steht, ein Gott sein kann […].“
Bisher ist das eine sechsseitige Kurzgeschichte, die ich als inhaltlich abgeschlossen angesehen hatte, die aber in meinem Kopf gerade wächst. Ich überlege, eine zweite Figur auftreten zu lassen, eine verwitwete Buchhändlerin in Phoenix, Arizona, die Josephs Audio-Pornographie hört. Er kauft ein Buch bei ihr, sie erkennt seine Stimme, es kommt zu weiteren Treffen, schließlich wird eine Liebesgeschichte daraus. Athene hält die Nacht an und schenkt den Liebenden Unendlichkeit in der Endlichkeit. Nach meiner Planung wären das etwa 20 Seiten. Ich fürchte mich aber noch vor dem Weiterschreiben, weil ich, glaub ich, als Klimax eine Sexszene schreiben müsste. Keine lustige, sondern eine gelungene. Und das ist schwer, besonders auf Deutsch, oder?
In der Tat, Sexszenen sind schwer. Kannst du eine von einer anderen Autorin oder einem anderen Autoren benennen, die deiner Meinung nach gelungen ist?
Mir fällt spontan keine richtige Szene ein, nein. Zuletzt gelesen habe ich gelungene Darstellungen von Körperlichkeit in Helene Hegemanns Schlachtensee, Hegemann sagt dazu, es gehe „um den Kampf der Körper, in einer Welt aus Algorithmen wieder vorzukommen“. Das gefällt mir, aber im Buch sind das eher Fetzen, höchstens zwei, drei Zeilen am Stück. Zwei verlorene Menschen kommen (manchmal ekstatisch) zusammen, dann geht es wieder auseinander. Vielleicht ist das ein Merkmal einer guten Sexszene, dass sie kurz sein muss. Wenn man sich auf die Details konzentriert, wird es unangenehm oder lustig; wenn man metaphorisch wird, ganz schlimm. Bei Haruki Murakami gibt es grauenvolle Sexszenen, ein erigiertes Glied vergleicht er in Kafka am Strand mit dem „schiefen Turm von Pisa, der freudig den Karneval erwartet“.
Mir schwebt für den genannten Text etwas Ausführliches, realistisch Geschildertes vor; aber ich weiß nicht, ob ich das hinkriege.
Gestern habe ich in Ulrich Peltzers Teil der Lösung eine Sexszene gelesen, die über zwei Seiten geht, sehr gewagt, fließend und präzise zugleich. Aber selbst da haben mich als Leser dann paar Begriffe gestört, „ein glitschiges Schaben und Saugen“, ein (vielleicht unabsichtlicher) Reim von „schloss“ auf „ergoss“. Und jede Leserin und jeder Leser wird in so einem schambehafteten Sprachfeld andere Wörter haben, die sie oder ihn irritieren. Deshalb: vermintes Terrain, sauschwer, darin zu überstehen. Ich werd’s probieren.
Hast du einmal, zum Beispiel in einem Gespräch oder Tagebuch, versucht, echten Sex, den du hattest, literarisch präzise zu beschreiben?
Nein. Tagebuch schreibe ich nicht, und im Gespräch neige ich zu Übertreibungen, Scham und Verknappung. Reizt mich auch null, den hab ich ja schon erlebt. Die Szene in der Erzählung müsste sich aus den Figuren ergeben.
Du merktest zuvor an, einen 30-Jährigen zu seiner Poetologie zu befragen, sei etwas verfrüht. Welchen Roman würdest du als alter Mann gerne schreiben wollen?
1) Einen Bestseller, dessen Einnahmen nach meinem Tod dafür genutzt werden, Sportplätze in benachteiligten Stadtteilen, Regionen und Ländern zu bauen.
2) Ehrgeizbedingt einen Roman, in dem wirklich alles passt, sowas wie Tschick, mit Tempo, einfallsreicher Struktur, eigener Sprache, Komik, Herz und Hirn etc etc, und einer Geschichte, die für jede Leserin und jeden Leser auf andere Art bedeutsam ist.
Der dürfte aber gerne auch schon früher kommen.
3) Konkret als alter Mann vielleicht einen großen Stadtroman, der von oben nach unten durch alle Schichten schaut, mit vielfältigem Personal. Mir fehlt da noch zu viel Wissen über konkrete Vorgänge, besonders politischer und philosophischer Natur. Ich muss noch so viel lesen.
Es wird sich zeigen. Sieben Jahre, nachdem ich eine längere Zeit allein in Tokyo war, konnte ich zum ersten Mal etwas schreiben, was dort spielt. So wie ich gerade durch Wien treibe, etwas ziellos, und jetzt natürlich noch nichts über Wien schreiben kann. Obwohl ich gerne würde, aber ich trau mich nicht. Von daher: Ein alter Autor werden wird toll.
Basierend auf deiner Kurzgeschichte Der Spediteur hast du zusammen mit Florian Schmitz ein Drehbuch geschrieben, das Schmitz verfilmt hat (Matratzen). Hast du vor, in nächster Zeit weitere Drehbücher zu schreiben?
Gerade bin ich sehr auf die Prosa fokussiert und versuche, in dem Bereich voranzukommen (Fußballerfloskel: „den nächsten Schritt machen“). Von daher ist in naher Zukunft aus eigenem Antrieb eher nichts zu erwarten.
Aber wenn mich jemand fragen würde, und derjenige einer wäre, mit dem mich die künstlerische Zusammenarbeit reizt und bei dem ich (wie bei Florian Schmitz) das Gefühl habe, ich kann ihm vertrauen, mit dem Geschriebenen respektvoll umzugehen, könnte ich es mir vorstellen.
Ich hatte bei einer Vorführung von Matratzen neulich die – für alle anderen Menschen sicher banale – Erkenntnis: Bei meinen Lesungen kann ich ja nie im Publikum sitzen, beim Film schon. Und diese Masse um einen rum, die auf das, was du geschrieben hast, direkt reagiert, sich erschreckt, seufzt, auf den Sitzen hin- und herrutscht, lacht – das kickt schon gut.
Das Magazin der Süddeutschen Zeitung führt Interviews in Bildern. Fragen werden mit Fotos beantwortet. Das würde ich zum Abschluss gerne kopieren: Wie fühlst du dich vor einer Lesung? Wie fühlst du dich nach einer Lesung?