Der Autor Leonard Prandini undercover als Schüler im Unterricht

Diese Kolumne ist ein Loblied auf die Schule, aber es ist möglich, daß die Schule es nicht merkt.

Zwei offizielle Dokumente sind mir aus Schulzeiten erhalten geblieben. In dem einen wird mir wegen eines erheblichen Verstoßes gegen die Schulordnung – Verkauf eines Hasch-Brownies im Foyer – die Androhung der Entlassung nach § 53 Absatz 3 Nr.4 SchG ausgesprochen. In dem anderen werde ich dann auf regulärem Wege mit der Abschlussnote 1,0 entlassen.

Diesen Dokumenten ist etwas Wichtiges zu entnehmen. Nicht etwa, dass ich ein besonders dummer oder besonders schlauer Schüler gewesen bin, obwohl man vielleicht für beides argumentieren könnte. Was diese Dokumente eigentlich zeigen, ist, wie sehr ich die Schule geliebt habe: Ich glaubte fest daran, dass, was auch immer dort geschah, von Bedeutung war. Ob auf dem Pausenhof oder im Unterricht. Die Bestimmung der Fläche unter einem Graphen durchs Integral erschien mir genauso relevant wie, dass Clara und Tim auf der Toilette bei den Kunsträumen gevögelt hatten. Und entgegen verbreiteter Kritik habe ich beide Kenntnisse im späteren Leben noch gebraucht. 

Tatsächlich liebte ich die Hanna-Arendt-Schule so sehr – eigentlich verzeihe ich ihr bis heute nicht, dass sie mich einfach gehen ließ. Zehn Jahre nach meinem Abitur, als bald Dreißigjähriger mit Peter-Pan-Syndrom, wird es Zeit, diese Rechnung zu begleichen. Zeit für eine Operation „Feuerzangenbowle“: Ich will undercover als neunzehnjähriger Schüler noch einmal an die HAS gehen.

Um die Erfahrung so konsequent wie möglich zu gestalten, bitte ich meine Mutter, für die Schulzeit wieder bei ihr wohnen zu dürfen: Sie ist nicht erpicht darauf, aber sagt zu. Dann steht ein Makeover an. Den verrauchten Altherren-Mantel ersetze ich durch eine North-Face Jacke, die ausgetretenen Pumas durch Converse, die aussehen, als habe ein Buffalo-Boot biblischen Mutwillen mit einem Chuck getrieben. Beim Friseur bestelle ich einen Haarschnitt, der meine Geheimratsecken kaschiert, lasse die grauen Strähnen überfärben, rasiere mich komplett glatt, lege die pseudointellektuelle Brille ab, stelle den Wecker auf unsäglich frühe 06:30 Uhr, döse für ein paar Stunden weg und erwache als Dario Pfeiffer: Geboren 2003. Eltern getrennt. Stress mit meinem Dad in Berlin. Umzug zu meiner Mom nach Köln. Also kurz vor dem Abi nochmal die Schule wechseln. Dafür schaue ich mir zwei Tage die HAS an.

Den Rucksack lässig über die Schulter geworfen, Skateboard unterm Arm, steige ich aus dem Bus, werde unversehens Teil eines großen Schülerpulks. Vor dem Oberstufengebäude treffe ich meine Connection Hektor, einen Schüler aus der Q2. Er trägt einen angedeuteten Mullet, silbernen Ohrring und weit geschnittene Jeans. Erstes Fach auf seinem Stundenplan: Philosophie. Ich folge ihm die Treppe hinauf ins Schulgebäude. Auf den ersten Blick alles wie früher: Abgetretene Steinfliesen, schaler Geruch, öde gelbe Wandfarbe.

Wir warten auf dem Boden im Flur. Ella wird heute achtzehn. Die meisten sind nicht mal volljährig. Das ist praktisch: Sofern ich nämlich älter wirke, kann es sich darin auflösen, dass ich ja auch „schon neunzehn“ bin. Meine Angst, noch vor dem ersten Glockenschlag entlarvt zu werden, schwindet.

Als Frau Douzedenier kommt, humpele ich den anderen – steif vom ausklingenden Hexenschuss – ins Klassenzimmer nach. Dann muss ich mich vorstellen. Ich gebe ein bisschen too much information über die Trennung meiner Eltern, werde eher abgewürgt als weiter ausgefragt und das scheinbar Unmögliche geschieht: Ich gehe vor allen als Schüler durch.

Auf dem Lehrplan Rousseau. Mit geübten Handgriffen kriegt Sonja meinen eingetrockneten LAMY-Füller wieder zum Laufen. Statt Notizen zu machen, kritzele ich nur Karikaturen auf meinen College-Block. Zwar habe ich Philosophie studiert, doch Hektor erklärt mir den Text besser, als ich selbst ihn je zusammenfassen könnte.

In der letzten Reihe wird mit Abi-Motto-Stickern gedealt. Sonja schenkt mir einen, den ich gleich auf mein Handy klebe: HASchisch – Mit einer Schultüte fing alles an. Das Motto kam auch vor zehn Jahren in die Auswahl. Dafür sind die Photoshop-Skills heute besser: Vor dem Hintergrund eines Hanfblatts raucht Hanna Arendt einen Joint.

Schnell verstricke ich mich in verstohlene Gespräche mit den Sitznachbarn: Welche Schulen ich noch anschaue? Das Goethe. Oh Gott, ne, voll die Assis. Die Fehde zwischen beiden Schulen, die in den Motto-Wochen besonders eskaliert, wurde von Generation zu Generation weitergetragen. Da ich jetzt schon den Sticker habe, sagt eine, müsse ich ja wohl an die HAS kommen. Bei der Textbesprechung wage ich schließlich eine Wortmeldung mit dem Einzigen, das mir aus dem Studium noch erinnerlich ist: Ob es stimme, dass Rousseau Exhibitionist gewesen sei?

„Ich hab gehört, der hat seinen dick geflashed und so.“

Es klingelt zur großen Pause. Gegen die Anspannung hilse ich erstmal zwei Zigaretten weg. Dabei checke ich die Gruppe aus. Ich bin bei den Artsy-Nerdigen gelandet, fühle mich ganz wohl unter ihnen, mache Smalltalk und versuche, mir Namen zu merken. Zwar finden die Schülerinnen es cringe, dass ich allen so förmlich die Hand reiche, doch ich mache es slay genug, dass es als Berlin-Ding durchgeht. CAP, SMASH, SIU – selbstverständlich habe ich die Vokabeln gelernt.

Als ich Herrn Altmann in die Straße einbiegen sehe, drücke ich schnell die Zigarette am Skateboard aus. Seine Adleraugen sind gefährlich. In der zehnten Klasse, als Dustin Dunkler und ich ein paar Bier im Gebüsch vor der Schule exten, spottete er uns aus zwanzig Metern Entfernung. Während wir im Musikunterricht bei Herrn Schank das beste Referat unseres Lebens hielten, ging Altmann sicherheitshalber noch mal den Vorplatz ab. In der dritten Stunde wurden wir aus dem Unterricht geholt. Beim Rektor auf dem Tisch standen die leeren Dosen. Aussichtslos, es zu dementieren. Auch konnten wir unseren Schwips nicht überzeugend verbergen. Wir wurden suspendiert, mussten von den Eltern abgeholt werden und zu Hause ausnüchtern.

„Beim Alkohol verlaufen die Grenzen fließend“, predigte unsere Klassenlehrerin Frau Grünstock. Das war 2009 – eine Zahl, die zwischen meinen neuen Mitschülern völlig wild erscheint.

„Siuuuuu“, sagt Adeleida in Reaktion auf irgendwas. Hektor, der mir im Unterricht noch häufiger nachhelfen muss, war damals erst vier Jahre alt. Heute stehe ich als seinesgleichen hier, werde von allen für einen Schüler gehalten, nehme ganz normal am Unterricht teil, lese Arbeitsblätter, mache Vor-Abi-Klausuren, melde mich, mische mich in Klatschgespräche ein: Wer ist die chronische Zu-spät-Kommerin? Wer die größte Gossip Queen, der größte Alman? Ebenfalls heiß diskutiert in der Schülerschaft: Dass Herr Pussig sich den Bart abrasiert hat. Top oder Flop? Die Frage spaltet. Rührend dagegen ist, dass Frau Büchner inzwischen seinen Nachnamen angenommen hat.

Insgesamt kommen mir die Schüler sehr erwachsen vor, informiert, redegewandt und autark. Nicht die weltfremden TikTok-Zoomer, als die sie oft portraitiert werden. Ohne dass ich etwas spielen müsste, diskutieren wir auf Augenhöhe miteinander.

Mittlerweile kenne ich ein paar von ihnen besser, hänge nach der Schule noch mit Carlotta in einer Kunstausstellung der LKs ab. Als große Rauminstallation steht dort ein aufgeschnittener Kopf, aus dem Gedanken aufsteigen: Zukunft, Klima, Rassismus, Angst, Freiheit. An den Wänden Pop-Art-Collagen, Fotoreihen, Drucke und Zeichnungen: Eine Frau sucht ein Gesicht auf einer Wand voller Masken, Soldaten laden ein Geschütz. 

Die dauernden Anrufe meiner Mom nerven: Wie mein erster Schultag gewesen sei, ob ich zum Abendessen wieder da wäre?

„Keine Ahnung“, sage ich trotzig, „Was weiß ich.“

Carlotta und ich spielen ein von Schülern gestaltetes Foto-Memory. Traditionell gewinnt hier immer jung gegen alt – also der ultimative Test, ob meine Verjüngung auch seelisch erfolgreich war. Als ich gewinne, führe ich mich in ihren Augen unangemessen triumphal auf. Fast zwei Stunden unterhalten wir uns noch: Wie es sich anfühle, die Schule bald zu verlassen? Ganz gut. Ob sie Angst habe, ihre Freunde zu verlieren? Ein bisschen vielleicht. Nach dem Abi will sie Interrail machen. Da das Gespräch persönlicher wird, fühle ich mich zunehmend creepy und möchte sie nicht weiter täuschen. Ich habe eh den Eindruck, dass sie checkt, was abgeht: Hat Hektor was durchgestochen? Niemals hält sie mich für neunzehn.

„Aber du weißt schon, wer ich wirklich bin, oder?“, frage ich, „Also was ich eigentlich hier mache?“

„Klar“, sagt sie etwas verwirrt, „Du ziehst aus Berlin her und schaust dir jetzt Schulen an?“

„Nicht ganz.“

Die Wahrheit versetzt sie in Erstaunen: Das hätte sie niemals gedacht. Fast Dreißig? Zum Glück findet sie es witzig und verspricht, es niemandem zu erzählen.

Am nächsten Tag begleite ich sie zu Frau Hinmanns, meiner Mathe-Lehrerin aus der Unterstufe. Vor sechs Jahren noch besuchte sie eine Lesung von mir, könnte mich durchaus wieder erkennen. Eine Weile schaut sie mich auch irritiert an. Doch der Friseur, der mich verjüngte, hat gute Arbeit mit dem Ockhamschen Rasiermesser geleistet: Dass ein Ehemaliger undercover hier sein könnte, ist eine viel zu ausschweifende Theorie. Die Annahme, ich sei einfach ein Schüler, der paar Ehrenrunden gedreht hat, deutlich plausibler. Sogar bei Frau Hinmanns gehe ich also durch. Das habe ich selbst nicht erwartet. Ähnlich fassungslos bin ich über mein Versagen in dem unangekündigten Mathe-Test: Eine stabile 5 in meinem damals besten Fach. Meine Sitznachbarin und ich sind lost, blättern panisch durch ihr Buch, versuchen, uns noch schnell die Formeln für den Erwartungswert einer Binomialverteilung drauf zu schaffen. Zum Ende des Unterrichts können wir zumindest ein paar Aufgaben beantworten.

Später in Sowi esse ich die Schulbrote, die meine Mutter mir am Morgen geschmiert hat. Ein Flashback: In der zwölften Klasse wurde ich einmal von der Schulleitung zum wütenden Hausmeister zitiert. Herr Pfeil brachte mich in den dritten Stock, klagte über die im Flur herumflatternden Tauben: Seit drei Stunden kämpfe er schon damit, die Vögel aus dem Gebäude zu jagen. In der großen Pause hatte ich im Foyer einen Galgen gegen die Diktatur der Brote errichtet: „Erhängt euer Schulbrot!“. Binnen kurzer Zeit baumelten dort fünfzehn Stullen. Die davon angelockten Tauben verirrten sich dann im Treppenhaus.

Meine Schul-Regression bedeutet leider auch einen Rückfall unter diese Diktatur: Käse mit Marmelade – ekelhaft – wer will das haben?

„Deine Mom schmiert dir noch Brote?“

„Äh.. Klar. Dir nicht?“

„Ne“, sagt die Schülerin und lacht mich ein bisschen aus. Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, bei meiner Feuerzangenbowle ganz in der Gegenwart zu bleiben. Doch im Foyer übermannt mich die Nostalgie zu sehr. Ich muss an den Sportlehrer Maldonado denken, der mich Jahre spielerisch damit erpresste, dass mir einmal an der Schulfassade die Natur gekommen war. An Thomas Kant, der so schmeichelhaft sein konnte, dass Lehrer irgendwann zugaben, BBC nicht nur als Akronym des Nachrichtensenders zu kennen. An Merve, die von ihren Holland-Reisen Kolonialwaren wie seltene Gewürzmischungen und Trüffel heimbrachte. An Max von Neuss, bei dem man den neuen iPod Touch unter Marktpreis bekam. An die Nachtschwärmerinnen, die Freitag morgens verkatert im Unterricht saßen, außerstande, die Spuren der Euroclub-Ladysnight zu überschminken.

Es sind überbelichtete Stills auf einer schnell drehenden Spule von Erinnerungen. Darin der Jugend-Solipsismus, alles bereits Dagewesene – sich Jahr für Jahr wie Abi-Mottos Wiederholende – aus eigener Kraft noch einmal neu zu schöpfen, sich für die Einzigen und Wahren, die Erfinder der Ironie und des Oralverkehrs zu halten, allen anderen abzusprechen, dass sie wissen könnten, wovon die Rede ist – nicht die Eltern, nicht die Lehrerinnen, die es niemals begreifen: Neuerlernte Worte, die plötzlich überall erklingen, Kickflips über Lagerfeuer, Freistunden im Brauhaus, Evolutionstheorie-Erleuchtungen und Psychoanalyse-Epiphanien, Hauspartys, Sex, Verhütungspannen, betrunkene Heulkrämpfe, Lachflashs, in Apfelschorlen-Flaschen gefülltes Bier, phallische Tischmalereien und Tags, KÖLLEFORNIA, TTO, Autofahrten in der großen Pause, Beschleunigung als Ableitung der Geschwindigkeit, Fightclub im Keller bei den Spinden, Kraft als Produkt von Beschleunigung und Masse, Schmierzettel-Liebesbriefe und Seifenblasen-Erotik, man selbst als Produkt der Musik, die man hört, von Handy zu Handy übertragene Porno-Clips, schmerzende Dringlichkeit in der Frage, wer man ist und nicht mehr sein will, Schwärmereien, Peinlichkeiten, die heisenbergsche Unschärfe darin, von allen Seiten beobachtet und doch nie wirklich gesehen zu werden, Gerüchte, Faustschläge, Zungenküsse und über all dem schwebend – in Trance und unberührt – ein Freiheits-Drang, der so hell und gleißend brennt wie der im Chemie-Unterricht gestohlene Magnesiumdraht.

Während ich Orientierungslosigkeit vorspiegele, folge ich Carlotta über die Freitreppe auf die Galerie, in den Flur zu meinem alten Klassenzimmer.

Drei Wochen nachdem Altmann uns erwischt hatte, verpetzte mich eine Mitschülerin, unter dem mit Alien-Orgien bekritzelten Tisch ein Klappmesser aufzubewahren. Frau Grünstock nahm es mir ab, bat mich hinaus auf diesen Flur und hier stehe ich nun: Im eigentlichen Zentrum meines Nimmerland-Komplexes. Durch die Fenster sieht man heute Dächer eines modernen Luxus-Wohnquartiers. Damals stand dort das alte Polizeipräsidium, ein 16 Stockwerke zählendes, leerstehendes Hochhaus. In die Fenster im obersten Stock hatten wir – Dustin Dunkler, Thomas Kant, Jean Wieselstock, Pablo Groschner und ich – unsere Initialen gesprüht, so dass man sie vom Flur aus lesen konnte.

„Er kennt seine Grenzen nicht mehr“, hatte Frau Grünstock beim letzten Elternsprechtag gesagt. Obwohl ihr das Graffiti unbekannt war, lag sie mit damit womöglich nicht ganz daneben. Statt der erwarteten Vorwürfe, gab sie mir das Messer jedoch zurück und sah mich an. Mitfühlend. Mütterlich fast. Ob ich mir vorstellen könne, zu überspringen? Im ersten Moment fühlte es sich schlimmer an als Strafe. Ich hatte Angst, meine Freunde zu verlieren, Angst, zu versagen, Angst, erwachsen werden zu müssen, und vielleicht ist das der Grund, warum ich mehr als eine Dekade später wieder als Schüler hier stehe: Ich verließ die 10 C, meine geliebte Klasse, vor der Zeit. Und indem ich ein Jahr übersprang, blieb ich im Herzen irgendwie sitzen.

Schrill läuten die Glocken zur letzten Stunde. Es ist mein letzter Schultag. Diesmal wirklich, verspreche ich mir. Und natürlich besuche ich zum Abschluss den Unterricht bei Frau Grünstock.

Sie kommt ein wenig zu spät. Mit gesenktem Kopf und schlagendem Herzen, schleiche ich mich zwischen den anderen Schülerinnen in den Raum, setze mich links an den Rand, versuche, so unauffällig wie möglich zu sein. Frau Grünstock wird allerdings schnell gewahr, dass ein neuer Schüler da ist. Sie tritt an meinen Tisch und ich sehe, wie in ihrem Gesicht ein Prozess des Erkennens einsetzt.

„Ach, sind Sie…“, sagt sie erstaunt. Es liegt ihr auf der Zunge, doch sie scheint noch zu suchen, wirkt unsicher, ob sie mich richtig zuordnet. Bevor sie weitersprechen kann, grätsche ich dazwischen, spule die Trennungs-Story meiner Eltern ab und tatsächlich erlischt der Ausdruck des Erkennens wieder.

„Dario“, sagt sie, „Ja, willkommen… Dann machen Sie einfach mal mit.“

Sie tritt einen Schritt zurück, starrt mich befremdet an und sagt mehr zu sich selbst als zu mir: „Im ersten Moment hätte ich Sie fast mit einem alten Schüler von mir verwechselt.“

Schon will sie sich abwenden, da dreht sich noch einmal um.

„Aber haben Sie denn Verwandte in Köln?“

„Klar… Also ich bin ja jetzt zu meiner Mutter gezogen.“

„Kennen Sie einen Leonard Prandini?“, will sie wissen. Darauf fällt mir nichts ein.

„Ist das Ihr Cousin?“, fragt sie weiter.

„Ja“, antworte ich nun.

„Wie aus einem Gesicht geschnitten….“, sagt sie verblüfft. Doch damit ist die Sache abgehakt. Der Unterricht beginnt und ich sitze wider Erwarten noch immer als Dario Pfeiffer hier. Ich versuche den Anflug schlechten Gewissens in streberhafter Mitarbeit zu ertränken, lese die Materialien zur Reformpädagogik. Als ich mich länger zu Wort melde, macht Frau Grünstock irgendetwas an ihrem Handy unterm Tisch. Das passt nicht zu ihr. Vielleicht ist es der Klang meiner Stimme, der neuerlich Zweifel aufwirft. Ich habe das bestimmte Gefühl, dass sie gerade einen Background-Check zu mir macht. Nachdem sie uns Themen für ein Gruppen-Referat zugeteilt hat, entschuldigt sie sich, sie habe noch einen Termin mit der Schulleiterin. Mein Herz schlägt. Meine Zeit ist abgelaufen: Ich werde auffliegen oder es auflösen müssen. Was, wenn ich zu weit gegangen bin? Wenn niemand es witzig findet? Wenn ich jemanden irgendwie ernstlich verletzt habe?

Nach einer halben Stunde kommt Frau Grünstock zurück und erklärt den Unterricht für vorzeitig beendet: „Die Referate machen Sie bitte bis übernächste Woche fertig.“

Dann wendet sie sich an mich.

„Dario“, sagt sie ernst, „Kommen Sie mal bitte mit?“

Die Schülerinnen packen zusammen. Ich stehe auf und folge ihr zur Tür. „Das klingt nicht gut“, raunt einer.

Auf dem Flur erklärt Frau Grünstock, beim Stufenleiter sei kein neuer Schüler bekannt. Auch bei der Schulleitung nicht. Ich kann nicht länger an mich halten und löse auf.

„Ich hab’s mir doch gedacht!“, sagt Frau Grünstock erleichtert, „Ich war mir nicht ganz sicher. Und dann wollte ich Ihnen ja auch kein Unrecht tun, falls Sie’s nicht sind. Ich konnt’s nicht sicher sagen. Aber ich dachte, wenn einer sowas macht, dann Sie.“ – sie lacht – „Das passt so zu Ihnen. Diese Eulenspiegelei!“

Wir setzen uns noch auf eine Parkbank vorm Gebäude und unterhalten uns. Dass Schule für mich ein positives Erlebnis war, verdanke ich zum großen Teil ihr. Dadurch, dass sie an mich glaubte als ich begann, negativ aufzufallen, glaubten auf einmal auch alle anderen an mich. Zu überspringen, beschenkte mich mit diesem besonderen Privileg: Was ich noch nicht konnte, wurde mir verziehen. Was ich schon wusste, wurde doppelt belohnt. Bei vielen lief es genau umgekehrt. Erst nach dem Abitur – befreit von diesem gnadenlosen Bewertungssystem, das einen jungen Menschen einfach so als ungenügend verwerfen kann – blühten sie auf. Ich sah Leute mit einer Beton-4 in Mathe später summa cum laude promovieren, sah mich dafür selbst heute eine 5 in diesem Fach schreiben.

Eigentlich ist es offensichtlich: Abitur bewertet einen nicht als Person. Gerade als jemand, dem es aufgrund seiner Noten schmeicheln würde, möchte ich das angesichts der bevorstehenden Prüfungen nochmal betonen. Abitur ist auch kein Intelligenz-Test. Leidenschaft spielt eine viel größere Rolle. Doch man kann in einer Sache nur leidenschaftlich sein, wenn man an sie glaubt. Nur an sie glauben, wenn sie einem irgendwie auch dasselbe zurückspiegelt. Schule ist nicht fair. Es kann schnell passieren, dass man übersehen wird, dass man anfängt, sich selbst zu übersehen.

Nun hatte ich das Glück, ein sichtbarer Schüler zu sein. Die beiden offiziellen Dokumente, die mir erhalten geblieben sind – die Androhung der Entlassung und mein Abi-Zeugnis – belegen letztlich nur das: Ich glaubte an die Schule, weil ich darin Selbstwirksamkeit erfuhr, im Positiven wie im Negativen.

Über das Gespräch mit Frau Grünstock habe ich die anderen Schülerinnen, mit denen ich zwei Tage verbrachte, schon verpasst. Ich warte noch vor der Sporthalle, um mich von Hektor zu verabschieden. Als ich Adeleida gegenüber auflöse, wer ich wirklich bin, will sie mir einfach nicht glauben. Ein Schriftsteller, der undercover im Unterricht war?

„Du laberst doch!“

„Nein, wirklich nicht.“

„CAP?“, fragt sie.

„NOCAP“, erwidere ich.

„Ihr verarscht mich!“ – für sie ist es genau der typische Unsinn, den ein neunzehnjähriger Schüler erzählen würde, um sich interessant zu machen – „Du bist doch nicht neunundzwanzig!“

Egal wie oft ich es beteure, egal, wie oft Hektor es bestätigt – sie will es einfach nicht glauben. Schließlich zeige ich ihr meinen Personalausweis.

„Siuuuuu!“, ruft sie aus, schlägt die Arme über dem Kopf zusammen, dreht sich einmal im Kreis und kommt wieder vor uns zum Stehen.

„Ein Imposter! Ich fass es nicht… Doch, doch… Ich hab’s von Anfang an gewusst! Ich schwöre, ich hab’s gleich gewusst!“, ruft sie, „Einfach ein Imposter!“