In Literatur und Film gibt es die sogenannte Show-Don’t-Tell-Doktrin: Man soll Sachverhalte zeigen, nicht auserzählen. Die Gegenstände zum Beispiel, die jemand bei sich trägt, erzählen oft mehr als ausformulierte Selbstbeschreibungen. Weil ich als verkappter Bürokrat solche Inventuren liebe, hier ein Protokoll meines letzten Donnerstags:
00:50 befinden sich auf dem Schreibtisch einer Person, mit der ich schreibe, ein Eierbecher, Rosenöl, Wimperntusche, ein leerer Keramikbecher und eine Tattoonadel, von der nicht ganz sicher ist, wessen DNA-Spuren sich daran befinden.
08:52 befindet sich ein Telefon in meiner Hand, auf dem Display eine unbekannte Nummer, in meiner Küche ein Wasserschaden, ein Haufen Pfandflaschen, ein Paper zum Diffie-Hellman-Schlüsselaustausch. Im Kühlschrank sieben Dosen Red-Bull Zero – eingewickelt in sieben 100-Euro-Scheine -, aber kein Frühstück. Auf meinem Schreibtisch ein Stapel ungelesener Briefe, ein Tagebuch, ein Kugelschreiber der WACHS 3000 AG. Auf dem Boden schmutzige Wäsche und Staub. Die nächsten Stunden befinde ich mich in Telefonaten mit der Hausverwaltung, der Projektfinanzierungs-Stelle der KHM und einer Dozentin. In der Süddeutschen Zeitung: Absturz einer amerikanischen Reaper-Drohne durch russische Su-27-Kampfjets. GPT-4 mit 100 Billionen Knotenpunkten im Vergleich zu nur 20 Milliarden bei ChatGPT.
11:02 mit ungewaschenen Haaren, Kaffee und Zigarette auf dem Balkon. In Sichtweite ein Kloster. In dem Tagebuch, das sich auf meinem Schreibtisch befindet, befindet sich ein Eintrag von 2016: Einmal als ich im Zug von Köln nach Bonn die Bekenntnisse des Augustinus las, befand sich die Hand eines Geistlichen, der nach einer Glaubenskrise aus der Kirche ausgetreten war, dauernd auf meinem nackten Knie. In den Einkaufswägen der benachbarten Nonnen, die ich regelmäßig im Lidl treffe, befinden sich stets große Mengen Schokolade und Fleischwurst.
12:58 auf dem Rückweg vom Lidl. In meiner Hand ein Croissant, eine Dose Cola Zero. In meiner Jacke: Eine Flasche Desinfektionsmittel, ein etwas in die Jahre gekommenes Kondom, Brillenputztücher, eine Quittung der Sauna im Neptunbad, Tabak und Drehzeug.
14:12 in Nippes neben meiner Mutter auf dem Beifahrersitz, in ihrer Hand mein Handy, in meiner Hand eine Dose Cola Zero. Im Kofferraum: Ein Jutebeutel mit Einkäufen, ein Schlafsack von Alexej, ein Mantel des Rappers Charlie Champagner, ein Regenschirm meiner verstorbenen Oma. Einmal befand sich der Schlafsack in Zagreb. Einmal befand sich der Mantel in Wien. Einmal befand sich der Regenschirm in Budapest.
15:35 am Schreibtisch. Im Manuskript meines Romans befinden sich Fehler. In mir: Appetitlosigkeit, ein Gefühl von Überforderung, eine vage Sehnsucht nach Intimität.
17:11 im Halteverbot in Ehrenfeld beim Neptunbad. Auf dem Beifahrersitz Thomas Empl. In seiner Hand ein Bilderrahmen. In seinem Gesicht ein Lächeln.
17:45 im Lager der sozialistischen Selbsthilfe am Barbarossaplatz. In meinem Portemonnaie befinden sich 43,52 Euro, Ausweise, Bankkarten und ein Los der Valencianischen Weihnachtslotterie. Im Kofferraum ein Schlafsack, ein Mantel, ein Regenschirm, zwei Holzschränke und zwei Messer, von denen unklar ist, wessen DNA-Spuren sich daran befinden. Im Hugendubel am Stachus in München befanden sich gestern 17 Exemplare von Lisas Buch, sagt Thomas. An meinen Händen Friteusen-Fett. In mir: Lust auf das Wochenende, meine Freundin wiederzusehen.
18:48 in Thomas Küche. Auf dem Tisch befinden sich ein Wasserglas, ein Gruppenfoto von einer gemeinsamen Lesung in Leverkusen, eine Ausgabe der ZEIT.
19:09 auf dem Weg nach Hause. Auf der Rückbank Thomas Sporttasche. In mir der Wunsch von der Besitzerin der Tattoo-Nadel tätowiert zu werden, darunter versteckt eine vage Sehnsucht nach Intimität. An der Ecke Luxemburger-Straße/Weißhausstraße befindet sich zufällig der Lyriker Tobias Schulenburg.
19:34 an der Aral Tankstelle am Bonner Verteiler. Auf Tobias Kopf eine Cap, in seiner Hand eine Flasche Mountain Dew, in meiner Hand ein etwas in die Jahre gekommenes Kondom. Wir befinden uns in einem Gespräch über die Errungenschaften des Feminismus, über die Sortenvielfalt von Durstlöscher, sein Vorhaben, Durstlöscher künstlerisch aufzugreifen, die kommentierte Neu-Auflage der gefälschten Hitler-Tagebücher im MÄRZ Verlag.
20:41 in meiner Wohnung. In Tobias Händen ein Buch: Les Fleurs du Mal. In meiner Hand eine Tasse koffeinfreien Kaffees. Einmal befand ich mich im Hintergrund eines Fotos von mir fremden, in einer anderen Stadt lebenden Freunden einer Freundin von Alexej, dessen Schlafsack sich im Kofferraum des Autos befindet, das sich gerade mit Warnblinklicht im Halteverbot vor dem Haus befindet. Auf meinem Handy eine Nachricht von Lasse, wie es heute aussähe. Eine Nachricht von Thomas: Ob ich wieder eingeschlafen sei?
21:09 mit ungewaschenen Haaren im Auto vor Tobias Haustür. 21:18 wach im Auto vor Thomas Haustür. 21:31 singend im Auto vor Lasses Haustür. 21:39 auf der Roonstraße. Thomas auf dem Beifahrersitz, Lasse auf der Rückbank, in seiner Hand eine Dose Energy-Drink.
22:58 in einer Punk-Kneipe. Auf dem Tisch Hansa Pils, Sprudelwasser, eine Bauchtasche und ein Durak Spiel. Neben dem Tisch Isabel, die wir Montag im Café Storch trafen, und Isabel, die Freundin von Isabel. Gespräche über ChatGPT, das Internet, den Literaturbetrieb, anale Stimulation und die Musik, die gerade läuft. Verschlagenheit in Peters Gesicht, als er seine betrügerischen Schulhof-Durak-Tricks auspackt. Ein Ausdruck von Milde, als er verliebt von seiner Freundin spricht. In mir: Hunger, ein Gefühl von Gelassenheit, eine konkrete Sehnsucht nach Intimität.
Später befinde ich mich im Gespräch mit einem Hacker, auf dessen Handy sich ein Linux-Terminal befindet, in dem sich die IP eines ausländischen Servers befindet, auf dem sich eine von mir nie ganz zu Ende programmierte interaktive Fanfiction-Seite befindet, auf der sich zum Aufbau einer sicheren Verbindung ein öffentlicher Schlüssel befindet, der den Anforderungen des Papers von Diffie und Hellman entspricht, das sich in meiner Küche auf der Fensterbank unter dem Wasserfleck befindet.
Nach unserem letzten Besuch in dieser Kneipe, befand sich Thomas Jacke für mehrere Tage im Besitz eines fremden Mannes. Plötzlich befinde ich mich halb in den Armen einer fremden Frau, die mich mit einem Bekannten aus Berlin verwechselt. Einmal befand sich ein guter Bekannter von Lasse in einem Vorlesungssaal in Klagenfurt auf einem Sitzplatz neben Peter, in dessen Hand sich ein Kugelschreiber der WACHS 3000 AG befand, worüber die beiden ins Gespräch kamen. Heute befinden Peter und er sich in einer Freundschaft, Lasse und er sich in Verzug, einander endlich mal wieder zu treffen, Peter und Lasse sich im Gespräch über ihn. Die Frau, die mich für einen Bekannten hielt, befindet sich inzwischen bei ihren tatsächlichen Bekannten. Auf unserem Tisch neue Flaschen Hansa Pils, eine Bauchtasche und Dreh-Utensilien.
Während sich der Hacker in dem Versuch befindet, meine Fanfiction-Seite zu hacken, befinden wir uns im Unklaren über die Hausregeln an einem Billard-Tisch, der sich in einer Kneipe befindet, die sich in einer Stadt befindet, in der sich eine Kathedrale befindet, unter der sich Gräber von Erzbischöfen befinden, die sich in Glaubenskrisen befanden und die Bekenntnisse des Augustinus lasen.
04:21 mit ungewaschenen Haaren in einer fremden Wohnung. In meinem Mund befindet sich eine Zahnbürste, von der unklar ist, wessen DNA-Spuren sich daran befinden. An den Wänden Kletterpflanzen. Im Aschenbecher ein glimmender Joint. Ich befinde mich in einer konkreten Intimität. In meiner Hand ein etwas in die Jahre gekommenes Kondom. In meinem Kopf eine Erleuchtung: Wir alle befinden uns in sehr willkürlichen Bekanntschaften, in Fotogalerien von Leuten, die keine Namen zu unseren Gesichtern wissen, in vagen und konkreten Sehnsüchten nach Intimität, in Glaubenskrisen, in Datenbanken von Hackern, in der Pflicht, einander endlich mal wieder zu treffen und ganz grundsätzlich in einer Lage, in der es nicht so wichtig ist, wo wir uns morgen befinden werden.
05:40 im Halbschlaf. Einmal befand sich ein ehemaliger Mitschüler von mir auf der Rückbank eines kleinen Reisebusses, der nachmittags unter der Woche über Serpentinenstraßen durch einsames Hochland von einem Dorf in Peru nach Bolivien fuhr.