Ein Tennisspieler bei den French Open 2023

Immer, wenn sich mein Kontostand der Null nähert, komme ich in eine Art Fight or Flight Modus. Vor die Wahl gestellt, entweder neues Geld zu beschaffen oder vorhandene Kosten zu reduzieren, dribbel ich das System, indem ich einfach nicht vorhandenes Geld für neue Dinge ausgebe. Mit dem letzten Cent etwas Sinnvolles zu tun, fühlt sich einfach falsch an. Gebietet nicht sogar die Moral, der Mensch solle nie am Nötigen, sondern, wenn überhaupt, dann am Luxus zu Grunde gehen? Wenn das Resultat einer Ausgabe Insolvenz lautet, dann macht man doch keinen gewöhnlichen Wocheneinkauf, oder? Wie traurig wäre es, auf die Frage, weshalb man pleite sei, antworten zu müssen, man habe halt ein paar Pakete Nudeln und eine Flasche Olivenöl gekauft?

In meiner Berlin-Zeit, in der ich stets zur Mitte des Monats in die roten Zahlen kam, erschien es mir logisch, das mit dem Kauf einer Flasche Champagner oder einer sinnlosen Taxifahrt zu tun. Dann fuhr ich von der Hermannstraße zum Nollendorfplatz, wo ich so lange rumstand, bis ich mich aufraffen konnte, zu Fuß heim zu gehen. Den Wocheneinkauf im Wert von 5 Euro ließ ich mir später von philanthropischen Rentnerinnen im Bio-Supermarkt ausgeben. Nudeln mit Öl ist übrigens eine Mahlzeit, die bei einer Flasche Champagner gar nicht mal so traurig wirkt.

Glücklicherweise sind diese Momente rar geworden, seit ich meine kostspielige Leidenschaft für’s Glücksspiel aufgegeben habe. Auch hat sich meine Definition von broke sein verschoben. Früher war ich erst dann pleite, wenn der Bankomat wirklich keinen Schein mehr herausgab. Inzwischen liegt meine Schmerzgrenze bei 2000 Euro. Dabei habe ich damals gehasst, wenn Leute jammerten, sie wären blank, aber eigentlich noch genug hatten, sich spontan einen gebrauchten Kleinwagen zu leisten.

Als ich nun kürzlich feststellen musste, dass meine Lifestyle-Ausgaben die monatlichen Einkünfte weit übersteigen – Restaurant hier, Sauna dort, mit dem Uber nach Hause – belebte ich das angestaubte Generation-Y-Credo wieder und sagte mir: YOLO. Mein Erspartes zerfließt langsam in kleinen Bequemlichkeiten – kann man das nicht beschleunigen?

Nichts leichter als das. So kaufe ich spontan ein altes Peugeot Cabrio mit braunen Leder-Sitzen. Roland Garros. Die Tennis-Ausstattung. Sehr stylisch.

Als Bewohner einer Großstadt brauche ich natürlich kein Auto. Erst recht keinen Zweisitzer, in dem man kaum einen Koffer unterbringen kann. Aber wer altersflexibel genug ist, für einen neunzehnjährigen Schüler gehalten zu werden, sollte auch in die andere Richtung denken: Eine verfrühte Midlife-Crisis, pünktlich zur Cabrio-Saison? Let’s go.

„Wie du hast dir ein Auto gekauft?!“, fragt meine Mutter entsetzt, „Wo hast du das Geld her?! Was hast du gemacht?! Du hast doch gar kein Geld!“

„Ich habe einen Job, Mama. Der Wagen hat 2500 gekostet. Was glaubst du denn?“

„Ja, ich weiß ja nicht… Ich habe deine Kolumne gelesen. Was du für Sachen machst…“

Es dauert, bis ich meine Mutter überzeugen kann, dass ich das Geld nicht kriminell beschafft habe. Doch weil sie eine liebende Mutter ist, besorgt sie mir am Ende sogar noch Nummernschilder.

Das kommt mir entgegen, denn ich muss nun wirklich jeden Cent zweimal umdrehen: Da man beim Fahren keine Zigaretten drehen kann, muss ich jetzt die teuren Camel rauchen und Benzin hat auch seinen Preis.

Als erste Sparmaßnahme schließe ich für 99 Euro monatlich eine L-Mitgliedschaft im Urban-Sports-Club ab. Zwar mache ich keinen Sport, doch bei zwei Sauna-Besuchen pro Woche lohnt sich das. Auch kann ich jetzt zum Duschen ins Fitness-Studio gehen. Das Geniale an dieser Art des Sparens ist: Sie lässt einen sogar noch reicher aussehen. Peinlich wird mir der Geiz nur, als Natalie mich dabei erwischt, wie ich heimlich Desinfektionsmittel aus dem öffentlichen Spender in eine Flasche abfülle. Doch die Scham darüber verweht schnell im Fahrtwind: Tag und Nacht cruise ich mit offenem Verdeck durch die Stadt.

„Geile Karre“, ruft mir ein Pizza-Bote zu. Bis die Ampel grün wird, machen wir den Auto-Talk. Beim Abschied nennt er mich „Amigo“.

Ein anderer meint, mein Keilriemen klinge ausgelutscht, den solle ich mal checken lassen. In der Tat ist der technische Zustand des Autos etwas zweifelhaft. Doch die Ledersitze erfüllen ihren Zweck: Ich identifiziere mich mehr und mehr mit dem Tennis-Image des Wagens, trage beim Fahren Stirn- und Schweißband und verteile Bälle im Fußbereich, damit es aussieht, als käme ich gerade vom Platz.

Für den Sport selbst interessiere ich mich nicht. Aber ich finde, der Wagen macht mich zu einem Teil der Gesellschaft, die ihn betreibt. So fange ich dann auch an, Nachmittags im Tennis-Club abzuhängen. Einfach so, um Cappuccino zu trinken und den Spielern lässig zuzunicken.

Der Marienburger Sportclub 1920 e.V. ist deshalb so ein fabelhafter Ort, weil man ihn im Grunde nur mit dem Auto erreicht. Gemeines Fußvolk kann einen hier nicht stören. Man ist mitten in der Natur, hört nur Vogelzwitschern und das einschläfernde Geräusch aufschlagender Tennis-Bälle. Ganz selten nur schreckt mich das Röhren einer vorfahrenden G-Klasse auf. Bin ich eingeschlafen? Ein Blick auf meine kaputte Fake-Rolex beruhigt mich: Die Zeit steht hier wirklich still. So blättere ich weiter durch die ausliegenden Oldtimer-Zeitschriften, verfolge auf dem Fernseher ein bisschen die French-Open, erwidere das freundliche Lächeln der SUV-Mütter und lausche den Gesprächen.

„Der verschreibt mir jetzt Valoron und Tilidin.“

„Achja?“

„Sag mal, hast du vielleicht noch eine Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung in der Stadt?“

„Ja, ich glaub, da müsste noch eine sein.“

„Aber mit Garten, ja?“

Vom Tennis-Club aus betrachtet, ist der Kölner Wohnungsmarkt gar nicht so schwierig, wie alle behaupten. Selber Schuld, wer auf ImmoScout sucht. Als das Gespräch der beiden Frauen aber irgendwann auf’s Insolvenzrecht kommt, stresst es mich plötzlich: Kfz-Steuer, Sprit, Versicherung – die Inflation! Es ist schon Abend und ich vertrödele hier meine Zeit, während ich eigentlich  längst auf dem Weg zur Sauna sein müsste, damit sich die Urban-Sports-Mitgliedschaft lohnt. Leider müssen meine Sauna-Freunde gerade alle arbeiten. Als ich später mit Behsad zum Restaurant fahre, wundert er sich: „Was fliegen hier überall Tennis-Bälle rum?“

„Gerade sind French Open.“

Eigentlich wollte ich Bälle mit passender Roland-Garros-Aufschrift, doch 6,80 Euro waren mir zu viel, da musste ich welche auf einer Party im Vereinsheim klauen.

„Als ob du jetzt spielst.“

„Ne, aber ich hänge jetzt am Court ab und so.“

„Für den Blog?“

„Ja.“

„Och nee, wieder diese arrogante Schiene“, sagt Behsad, der die Persona meiner Kolumne extrem unsympathisch findet: „Und dann flext du natürlich mit dem Cabrio rum, ne?“

„Genau Amigo“, sage ich und trete auf’s Gas.