Die Severinsbrücke bei Nacht

Die Bonner Straße ist wach und voller Menschen. Eine Frau sagt unter beflissenen Handgesten zu einem Mann: „… der Bau der Geschlechtsorgane…“. Es riecht nach Haarwachs und Döner. Eine Plastikfolie wirbelt auf. Die Luft ist kühl. Ronja schreibt: Ob ich später bei ihr übernachten wolle, einen Film schauen? Ich weiß es nicht. Doch das Gefühl, dass der Abend Ziele hat, ist schön – es ist schön, weit ausholende Schritte zu machen, das Geplauder der Menschen ist schön. Eben am Gottesweg stand ein kleiner Junge, vielleicht 4 Jahre alt, vor dem Schaufenster eines Fahrradladens, ganz fasziniert von einem Helm mit Airbag.

„C‘est un casque avec airbaig“, erklärte die Mutter. Beeindruckt über die Enthüllung dieses Wunders fragte er, die kindliche Stimme ganz ehrfürchtig: „C‘est quoi, un airbag?“

Gesprächsfetzen, abgerissene Gedanken, kleine Geschichten ohne Anfang und Ende, die nichts bedeuten und doch so viel erzählen: „Das hat mich auch immer irritiert, dass du alles mit einem Lächeln erzählst und es dir eigentlich kacke geht.“, „Ich hatte das mal bei ner Big Band Probe, da gab‘s auch kostenlos schwarzen Kaffee und – ey – ich konnt‘ nicht mehr spielen.“, „Du bist viel zu nett. Andere hätten da direkt mit einem Anwalt agiert.“, „Ein Drittel Sekt, das ist natürlich nix.“

An der Kreuzung zur Schönhauser Straße wird eine Frau auf einem Moped angefahren. Das Auto nimmt ihr beim Abbiegen die Vorfahrt. Die Frau scheint unverletzt, aber unter Schock und versucht das Moped, auf dem sie noch sitzt, in Bewegung zu setzen. Eine Seite hat sich im Kühlergrill des Wagens verkeilt. Die Passantinnen, ich eingeschlossen, sind unschlüssig, ob zu helfen ist. Der einsetzende, querlaufende Verkehr hält sich an dem Unfall nicht auf. Endlich geht eine Frau hin, jetzt steigt auch die Fahrerin aus. Die Farbe des Mopeds ist Himmelblau. Schließlich kommt die Verkeilte vom Kühlergrill los und die Menschtraube löst sich auf.

Mr. Krabs preist „Wirbellose Zierfischraritäten Nanoaquatik“. Im Schaufenster steht ein Aquarium. Eine Frau sagt zur anderen, „… ich reg mich jetzt ein bisschen auf: seit 10 Jahren auf dem OP-Tisch…“.

Ein Händchen haltendes Paar spielt im Gehen ein Spiel. Sie klopft mit der freien Hand zweimal gegen seine haltende Hand und schmunzelt. Als das Schmunzeln in versonnenes Lächeln übergeht, klopft er ihre Hand. So geht es: Immer abwechselnd – Schmunzeln zu Lächeln, Lächeln zu Schmunzeln – frischen sie das Glück ihrer Verliebtheit auf.

Wenn dieser Abendhimmel, hellblau und rosa, ein Eis wäre, dann ein ungesundes Eis für Kinder. Und weil sie Eis noch nicht richtig essen können, ist am Ende das ganze Gesicht damit verschmiert.

Auf eine Bauabsperrung hat jemand „Lucky“ geschrieben, das Blaulicht eines Krankenwagens spiegelt sich in den Reflektorstreifen. Ich habe Lust, mir vorzustellen, dass der Tag gerade erst beginnt.

Drei beieinander eingehakte Mädchen: „Lass uns auf die Straße gehen, sonst quetschen wir uns wieder.“

Am Kiosk lehnen zwei ältere Männer. „Der Baum ist abgekracht. So ging das gestern.“, sagt einer und führt den Arm durch die Luft, „So geht der Ast runter!“. Um die beiden verbreitet sich Parfüm, das mir heimatlich vertraut vorkommt. Eine Weile sitze ich auf einer Bank in der Severinsstraße. Die Sonne ist untergegangen. Die Wolken liegen wie glühende Kohlen im Himmel. Kleine Briketts, mit grauer Asche bedeckt. An den Rändern glimmen sie noch.

„Eigentlich müsste ich da langsam mal zuschlagen.“

Manche sagen, dass es einmal außerirdisches Leben gegeben habe, doch nun seien wir allein im All. Ob es sich nicht so verhielte: Je entwickelter eine Spezies, desto höher die Wahrscheinlichkeit der Selbstauslöschung? Biowaffen, Atom- und Wasserstoffbomben: Der IQ der nötig sei, um die gesamte Erde auszulöschen, sinke jedes Jahr um einen Punkt. Ich müsste etwas essen, habe Hunger ohne Appetit. Ich fühle mich intelligent. Aber die Welt zerstören?

Ich beginne, zu frösteln. Zwischen Kirche und Bibliothek ist Windschatten. Ich stelle meine Tasche auf der Fensterbank ab und drehe eine Zigarette. Ein Mann, der an mir vorbei muss, wechselt die Straßenseite. So in den Rahmen des Fensters gebeugt, sieht es vielleicht aus, als nähme ich Drogen.

Das Schicksal der Person, die seit zehn Jahren auf dem OP-Tisch liegt, ist mir unbekannt. Ob die Frau von sich selbst oder jemand anderem gesprochen hat. Aber diese Person erscheint mir so unglaublich lebendig. Seit zehn Jahren auf dem OP-Tisch. Und das Fazit lautet: Das rege sie jetzt schon ein bisschen auf. So wie es ein bisschen aufregt, wenn man zwei Mal im selben Monat geblitzt wird.

Im Schaufenster werden Kinderbücher ausgestellt: Köln Häkeln – von Dom bis Kölsch. Mein Handy vibriert. Die Bücher stehen auf Kunstrasen, vergilbt und mit enthaltener DVD. Dazwischen Kastanien und Gummistiefel. Ich puste Rauch aus. Irgendwie fühle ich mich plötzlich unwohl, fast traurig, und das hat etwas mit dem Schaufenster zu tun, aber ich kann es nicht benennen.

Eine andere These zur Stille im All ist die: Jede Spezies, die in Frage kommt, das Weltall zu kolonisieren, muss ein biologisches Belohnungssystem besitzen. Ohne Belohnungssystem kein interstellarer Expansionsdrang. Doch wer ein Belohnungssystem besitzt, will es dauernd stimulieren. Und eine Spezies, die Raketenmotoren entwickeln kann, wird wohl auch immer effektivere Methoden zur Stimulation des Gehirns erdenken. Bücher, Radio, Fernsehen, Internet, Metaverse, Neuralink.

Vorhin im Vorgebirgspark saßen mir gegenüber auf der Bank zwei Jugendliche. Die eine flüsterte: „Du gehst jetzt an diesem Typen vorbei und ‚Hurensohn‘ sagst du ganz leise…“ Ich glaube, sie meinte mich. Ein Typ im Jogginganzug sprach in seine AirPods: „Und Taro dachte, der könnte das zu seinem Vorteil nutzen, dass ich jetzt Stress mit diesem Gian bekomme.“

Ist es nicht auffällig, dass Olds und Milners Erfolg, die belohnungsrelevanten Hirn-Regionen elektrisch zu stimulieren, im Jahre 1954, mit den ersten Meilensteinen der Raumfahrt zusammenfällt? Ratten die vorher Kokain süchtig gemacht wurden, haben sich für Koks nicht mehr interessiert. Für sie gab es nur noch den Knopf zur Selbststimulation.

Ich stehe an der Kreuzung Buschgasse – An der Eiche. Ein Steinplatz wie in einem französischen Vorort. Studierende sitzen auf der niedrigen Mauer, die einen Halbkreis bildet; im Außenbereich des Restaurants junge Familien. Die Ratten haben nicht mehr gegessen, nicht getrunken, nicht geschlafen. Sie aktivierten die Elektrode bis zur totalen Erschöpfung. Am Brunnen spielen Kinder, rennen den kleinen Hügel hoch und runter. Ein Mädchen zieht einen Stein aus dem losen Kopfsteinpflaster und läuft damit zum Tisch ihrer Eltern.

„… ich weiß auch nicht, warum er immer so abgehetzt ist. Eigentlich ist er 1,90 groß…“, spricht eine Fahrradfahrerin ins Headset. „Kon-to-ko-rrent!“, ruft ein Student, der von der Mauer aufgestanden ist. Er untermalt jede Silbe mit dem Zeigefinger und grinst. „Hör auf!“ – seine Begleiterin boxt ihm gegen den Oberschenkel. Ein Hund bleibt stehen und sieht mich an. Der Besitzer läuft weiter, ohne es zu bemerken. Ich habe heute geträumt, mit Behsad auf einer Party zu stehen. Er erzählte vom Refrendariat: Dass er jetzt eine „Diskriminierungsgruppe“ gegründet habe. Während er das sagte, sah er mich herausfordernd an, als wolle er mich auf die Probe stellen: „Weißt du, was das bedeutet, Diskriminierung?“

„Klar“, sagte ich: „Reizunterscheidung.“

Es war die richtige Antwort. Behsad wirkte zufrieden. Die AG hatte nämlich nichts mit der Herabwertung von Minderheiten zu tun: Es ging um die Schulung von Wahrnehmungsprozessen.

Mir ist wieder warm. Nach dem Schlaganfall meines Opas, als sich das Sprachvermögen langsam erholte, kamen als erstes die Sprüche zurück. Phrasen sind so unzerstörlich. Der Mann, der seit zwanzig Jahren am Bistrot-Kiosk einmal Kaffee schwarz wie seine Seele bestellt und lacht: „Ölreserven verbraucht? Da seh ich den Kartoffeln längst von unten beim Wachsen zu.“

Ich knacke mit dem Kiefer. Ist das sichtbar? Stört es andere, wenn ich es mache? Ich schaue auf mein Handy, lasse den Bildschirm aufflackern und wieder erlöschen, habe keine Lust, Nachrichten zu beantworten.

„Einfach sein Blick! Sein Blick! Dann voll rangezoomt. Und er kaut! Kaut so auf seiner Zunge. Da wusste der Arzt gar nicht, was abgeht!“

Sollte eine massentaugliche Technologie der Gehirnstimulation gefunden werden, bevor die Raumfahrt zur vollen Reife gelangt ist, wird vielleicht niemand mehr motiviert sein, ins All aufzubrechen.

„Händewaschen!“

Die Mutter im Restaurant fängt ihre Tochter ein, die zum Brunnen rennen will, hebt sie hoch, trägt sie zur Tür. Der Wind ist angenehm lau. Manchmal will ich, dass alles so bleibt. Dass die Leute bleiben. Dass das Geplauder bleibt. „Kriege ich ein Eis?“ – „Jetzt kommen erstmal die Pommes.“

Ich stehe auf. Irgendwohin müssen die Menschen. Die Leute bleiben nicht auf diesem Platz. Sie gehen nach Hause. „…mit 50 wird man nicht richtig wahrgenommen…“. Gehen in private Räume. Ins Innere.

Wenn auch keine sichtbare kausale Verbindung zwischen Raumfahrt und Gehirnstimulation besteht – vielleicht gibt es ein verborgenes Naturgesetz, dass sie immer Hand in Hand gehen. Ein Wettrennen. Entscheidend allein, welche Strecke kürzer ist: Die zum nächsten Planeten oder die ins eigene Gehirn? So kann man das Schweigen auch erklären. Der Expansion ins All kommt immer die totale Inkapsulierung ins Virtuelle zuvor. Warum wir kein Zeichen von Außerirdischen erhalten? Entweder sie sind noch unterentwickelt, oder sie haben sich bereits von der physischen Welt abgewandt und sind unauffindbar geworden: Wireheads, Matrixzivilisationen. Wahrscheinlich ist es ein Zeichen, dass Elon Musk, als treibende Kraft der Weltall-Kolonialisierung, zugleich an Neuralink, dem Brain-Machine-Interface arbeitet, welches Gehirn und Computer verbinden soll. Ich wäre gewillt, ihn für die Verkörperung eines Archetyps zu halten, der früher oder später in allen Zivilisationen auftritt. Apokalyptischer Reiter im Gewand eines Silicon-Valley-Moguls.

Ich steige in die Linie 4. Was soll das heißen, dass man mit 50 nicht richtig wahrgenommen wird? Sprach der Mann von Alter im Beruf, von Km/h im Straßenverkehr, von Geld im Portemonnaie, von Likes in sozialen Netzwerken? Und welche Intrige spinnt Taro aus? Wie genau will er es zu seinem Vorteil nutzen, dass einer jetzt Stress mit Gian bekommt? Hat er vor, Gian zur Gewalt aufzuwiegeln?

„Du schaffst das auch“ – eine Frau legt einem Mann die Hand auf die Schulter: „Du kannst auch ein einsamer Wolf sein.“

Es heißt, manche Autisten besäßen einen unwiderstehlichen Drang nach Vollständigkeit. Wenn etwas die Form einer unvollendeten Reihe habe, quäle es sie. Wie ein psychischer Juckreiz. 4, 3, 2, . Bis zu einem gewissen Grad, geht es a… Ich will so viele Dinge sagen und kann es nicht, weil sie nicht sinnvoll an etwas anschließen. Ich sage so viele Dinge, die ich weder meine noch empfinde, nur weil sie schlüssig fortsetzen, was zuvor gesagt wurde. Manchmal klappe ich erst um 05:00 Uhr den Laptop zu, habe stundenlang Compilations gesehen, von Dingen, die „oddly satisfying“ sind. Ein Handwerker setzt die letzte Fliese in die Lücke ein. Sie passt perfekt. 4, 3, 2, 1. Bis zu einem gewissen Grad, geht es allen so.

„Ganz Köln weiß jetzt, wie du lachst!“

„Du hast dich als ‚Schwester‘ bezeichnet, also bitte!“

„Jaaa! Ich bin deine biologische Schwester!“

Wie sieht es wohl in der Praxis eines Arztes aus, der gar nicht mehr weiß, was abgeht? Liegt man dort 10 Jahre auf dem OP-Tisch?

Am Wiener Platz steige ich aus, mache ein Foto vom Himmel. Ein Mann mit abgetragenem Mantel hebt ein Ticket vom Boden auf.

„Hier! Ist deine!“, ruft er, ohne sich an jemanden zu wenden. „Kannst du deinen Arsch sauber machen! Wie lange hast du nicht Waschen gemacht? Stinkt er, dein Arsch!“

In einem anderen Land war dieser Mann vielleicht einmal ein Arzt, dem etwas widerfahren ist, so dass er von einem Moment auf den anderen nichts mehr begriff. Davon hat man keine Vorstellung, obwohl es immer wieder geschieht: Dass sich von einem Moment auf den anderen alles ändert.

Bei der Sparkasse schwebt ein fauliger Geruch von Pommes in der Luft. „Wie geht’s?“, „Weißt du doch: Schlechten Leuten geht es immer gut!“

Feststehende Sätze: Franz jagt im komplett… Wie sieht ein komplett verwahrlostes Taxi aus? Hat es noch Sitze? Mit welchem Motiv jagt Franz quer durch Bayern? Vielleicht ist er trockener Alkoholiker im 12-Schritte-Programm, der sich jetzt bei allen entschuldigen will. Ich weiß auch nicht, warum Franz immer so abgehetzt ist. Oder er arbeitet als Grip-Assistant für WaPo Bodensee und muss dringend Equipment besorgen, damit die Dreharbeiten fortgesetzt werden können. Oder er hat einen Trip geschmissen und weiß einfach gar nicht mehr, was abgeht.

Die letzte Bahn ist gefahren. Ich laufe zu Fuß. Die Stadt so hell, ich glaube, ich könnte nicht ins All aufbrechen. Auf der Severinsbrücke zähle ich 60 Laternen. Jede kann an oder aus sein. Ich bleibe stehen und tippe in mein Handy. Es gibt 1 Trillion 152 Billiarden 921 Billionen 504 Milliarden 606 Millionen 846 Tausend und 976 Arten, die Severinsbrücke zu beleuchten. Ich tippe weiter. Würde sie jede Sekunde anders beleuchtet, bräuchte es hundertfach länger als das Universum alt ist, bis alle Kombinationen durch sind. Ich bleibe stehen und schaue in den Rhein. Das Wasser ist schwarz und voller Lichter. Ich sehe das so: Heute leuchten alle Laternen. Vielleicht sind alle Möglichkeiten einmal durchgespielt. Die Severinsbrücke hat auf jede erdenkbare Weise geleuchtet und morgen fängt alles wieder bei Null an.

Vor Jahren, als ich nachts hier so am Geländer stand, hielt ein Fahrradfahrer und sagte: „Mach’s nicht“.

Er sah mich an. Ich wusste nicht, was ich antworten sollte.

„Mach es einfach nicht“, wiederholte er, „Das Leben ist schön.“

„Ich weiß.“

Mein Herz schlug. Zu hause dachte ich an den Fahrradfahrer und notierte: Von innen sind alle Menschen rosa. Heute kann ich nicht mehr rekonstruieren, was dieser Fetzen Selbstgespräch bedeuten soll. Ob er einen tieferen Sinn besitzt oder am Ende bloß ein Kommentar auf den Bau der Geschlechtsorgane ist. Aber irgendwer, der mal in der Stadt an mir vorbeiläuft und dabei diesen Satz aufschnappt, findet vielleicht: Das ist ein unglaublich lebendiger Gedanke.