Der Drehbuchautor Aart Steinmann und der Autor Leonard Prandini in Las Vegas

Schon seit meiner Kindheit bin ich von Las Vegas fasziniert. Goldgräber-Übermut, High-Life, Glücksspiel. Vegas ist, wenn nicht die Geburtsstätte, so doch zumindest das Distributionszentrum des amerikanischen Traums. Eine im Wüsten-Nichts flimmernde Fatamorgana, aus der die Widersprüche amerikanischer Werte grell hervorleuchten: Auf der einen Seite puritanische Prüderie, auf der anderen Seite totale Sexualisierung. Hier das Glanz-Versprechen unbegrenzter Möglichkeiten, dort die Unterwerfung unter das Kapital. Diese Kontraste scheinen sich in den Biografien der Amerikaner fortzusetzen.

Im Zug von Graz nach Wien lerne ich den Kalifornier Shawn kennen. Eine Zeit lang hat er hoch oben auf der Karriereleiter balanciert. Dort wo man freihändig stehen muss, weil es keine Sprossen mehr zum Greifen gibt. Werbebranche – Rooftop-Parties in L.A.. Als es mit der Bankenkrise zu wackeln begann, ist er abgesprungen. Er wurde Berufssoldat, schoss in Afghanistan so viel mit der Hubschrauber-Flak, dass er Schulterprobleme bekam. Nun ist er Künstler und malt 20-Quadratmeter-Großformate von Muskelfasern.

Die letzten Jahre hat er mit seiner Frau in der Ukraine gelebt. Mit Ausbruch des Krieges sind sie nach Kroatien geflohen.

„It’s a warzone“, sagt er schulterzuckend, „I’ve been in warzones before.“

Das weiter auszuführen, ist ihm kein Bedürfnis. Kapitalismus, Krieg, Kunst sind Themen, die er nur mit Been-There-Done-That-Beiläufigkeit streift. Zwischendurch Mal die Gründung einer Firma, dann Europa. Im Augenblick klappert er Spiele-Messen ab, sucht Verlage für ein Kartenspiel, das er erfunden hat.

Shawn berät mich zu meiner bevorstehenden Vegas-Reise. Es sind eher Befehle als Tipps. In Las Vegas müsse ich auf jeden Fall im Golden Nugget unterkommen. Das einzige Hotel, in dem man wohnen könne. Der ganze Rest sei Bullshit. Ich solle einen Pass für den Pool Bereich auf der dritten Ebene kaufen, wo keine nervigen Kinder seien.

Ein paar Wochen später fahre ich mit Aart, einem guten Freund, über die Interstate 15 in Sin-City ein. So oft hatte ich davon geträumt, mit einem Mojito-Schwips durchs Lichtermeer zu treiben, im Flamingo am Roulette-Tisch mein Geld zu verdoppeln und zu vertausendfachen. Doch meine Glücksspiel-Zeiten sind vorbei. Wären sie das nicht, könnte ich mir die Reise gar nicht leisten. Die Mission ist also durchaus sonderbar: Weder Alkohol noch Glücksspiel. Es geht nicht einmal darum, irgendeine Form von Stärke zu beweisen. Wir wollen einfach nur die Stadt ansehen, ein paar Aufnahmen für einen Kurzfilm und ein Musikvideo machen.

Entgegen Shawns Rat kommen wir im Plaza Hotel unter, gleich gegenüber vom Golden Nugget. Die Stadt ist sicherlich leuchtend und groß. Aber irgendwie doch nur eine Stadt mit vielen Lampen. Die Touristen wirken wie deutsche Spanienurlauber. Die Augen glasig, aber ohne Fear and Loathing. 

Bauernfänger stecken uns Visitenkarten von Call-Girls zu. Der Sex, Drugs and Rock’n’Roll Vibe fehlt jedoch. Vor den Eingängen dekadenter Hotels lagern Crack-Süchtige in Zeltstädten. Das Publikum in den Casinos wirkt desinteressiert. Weil ich schlecht nein sagen kann, lasse ich mir von zwei leicht bekleideten Frauen in Polizistinnen-Outfits auf offener Straße den Arsch versohlen. Ich bezahle dafür fünf Dollar und werde als „cheap“ beschimpft.

Auf dem Heimweg verwechselt Aart das Golden Nugget mit unserem Hotel. Tatsächlich sieht es in der Lobby viel besser aus als bei uns. Er erwägt, doch zu spielen: Vielleicht verpasse er sonst das Wesentliche. Schließlich entscheidet er dagegen. In Vegas zu sein und nichts zu tun, sei eigentlich das einzige Erlebnis, das man hier noch haben könne. Irgendwie hat er Recht damit.

Wir vertreiben uns die Nächte mit Spaziergängen, Softdrinks und langen Gesprächen. Aart kauft eine Badehose, ich eine grüne Poker-Cap. Wir werden fürs Filmen aus einem Souvenir-Shop geschmissen. Ich telefoniere mit DJ Afrodyte von Tinder, deren Hotel ihre Kreditkarte zurückweist – ob sie heute nicht bei mir übernachten könne? Nachdem ich von den Polizistinnen schon Schläge eingesteckt habe, finde ich diesmal die Kraft, nein zu sagen.

Erst als die Stadt hinter uns im Wüstenstaub verschwunden ist, lebt ihr Symbolcharakter wieder auf: Dort in der Ferne scheint sie uns etwas über Amerika zu erzählen.

Zwei Tage später besichtigen wir den Mormonen-Tempel in Salt-Lake-City. Im zugehörigen Konferenz-Zentrum unterhalten wir uns mit zwei jungen Mormoninnen.

Um ihnen zu imponieren, rühmen wir uns unserer Enthaltsamkeit. Zwei Nächte in Vegas ohne zu trinken und zu spielen. Die Mormoninnen lachen uns dafür aus. Das ginge ja gar nicht, sagen sie unbeeindruckt. Die eine von ihnen hat, als sie in Vegas war, im Golden Nugget Hotel gewohnt. Vor allem der Pool auf der dritten Ebene sei toll gewesen: Da gäbe es eine Rutsche durch ein Becken, in dem echte Haie schwimmen.

Obwohl ich das Land nun mit eigenen Augen gesehen habe, bin ich bezüglich der hiesigen Wertvorstellungen nicht schlauer geworden. Das einzige, was ich gelernt habe, ist, dass wir offensichtlich im falschen Hotel waren.