Der Autor Leonard Prandini bei einer Massage

Der Psychologe Peter Sauermann und ich, beide 29 Jahre alt, beabsichtigen angesichts der bevorstehenden 30, eine biografische Coming-of-Age-Geschichte zu schreiben. Üblicherweise würde man zwischen humoristischen Zeitgeist-Beobachtungen sentimental auf Partys und Liebschaften von vor zehn Jahren zurückblicken: Wie abenteuerlich und groß schien damals die Welt? Wie fad dagegen Bürojob, Steuer-Angelegenheiten und Kinderwunsch.

Doch zum Teufel mit der Sentimentalität! Man kann die Frage des Alterns viel radikaler stellen, wenn man dabei in der Gegenwart bleibt. Nicht nur aufkochen, wie es vor zehn Jahren war, sondern versuchen, wirklich noch einmal 19 zu sein. Zusammen mit denen, die es jetzt sind. Als Teil der neuen Generation. Geht das?

Ich träume davon, noch einmal undercover als Schüler an eine Schule zu gehen, im Anschluss zusammen mit Peter eine organisierte Partyreise nach Rimini zu machen, uns einer Clique von 19-Jährigen anzuschließen und das Ganze literarisch zu begleiten.

Mein Freundeskreis ist skeptisch. Etwas jünger zu wirken, werde mir gelingen. Doch ich würde niemals als 19 durchgehen. Selbst wenn: Könnte ich noch wie ein 19-Jähriger fühlen?

Testweise breche ich mit einer Freundin ins Vingster Freibad ein. Für einen kurzen Moment, als wir über den Zaun klettern, fühlt sich das jung an. Am See selbst trifft uns jedoch die harte Dreißig – die ganze arrogante Gleichgültigkeit derer, die meinen, alles schon erlebt zu haben. Unentschlossen stehen wir da. Was nun? Dabei liegt es auf der Hand: Das Bademeister-Boot klauen, nackt schwimmen, rummachen! Doch es ist zu kalt. Wir können da draußen, auf dem dunklen Wasser, schlichtweg nichts erblicken, das uns die anschließende Erkältung wert wäre: Kein Abenteuer, kein erstes Mal.

Später analysiert ein Freund, uns habe die Mission gefehlt. Ich gebe ihm Recht. Der Wunsch, jung zu sein, ist an sich inhaltslos und wird am besten mit Botox kuriert. Über ästhetische Bedürfnisse hinaus ist Jugend nur insofern erstrebenswert, als dass man innerhalb dieser Jugend ein Terrain erschließen, etwas herausfinden, spüren und bewegen will.

Um dieses Terrain zunächst grob abzustecken, fliege ich für eine Woche allein nach Mallorca, mit dem Plan, dort die Generation Z auszuhorchen: „Welchen Aspekt deiner Person können Ältere am schwersten nachvollziehen?“, „Was willst du ändern?“. Und natürlich ganz blöd, aber essentiell: „Wie fühlt es sich an, 19 zu sein?“

Ich buche wahllos ein Hotel, das so billig ist, dass nur Jugendliche es buchen würden. Im Glauben, mitten im Ballermann-Moloch zu landen, verende ich in einem All-Inclusive Boomer-Paradies – einer abgeschotteten Hotel-Anlage, die darauf ausgelegt ist, dass man sie für die Dauer des Urlaubs nicht verlässt.

Gut, dass ich freier Autor und kein Journalist geworden bin. Mit meinem Arbeits-Ethos könnte ich es maximal noch zum In-Touch-Reporter bringen. Exakt zwei Sekunden dauert es, zu googlen, wo der Ballerman liegt: In El Arenal. Mehrere Busstunden entfernt. Gewiss, ich gebe mich gerne als viel beschäftigter Mann, doch dazu, herauszufinden, wo ich eigentlich hinfahre, hätte ich vor der Reise schon noch kurz die Zeit finden können.

Unter den sonnenverbrannten deutschen Touristen im Hotel-Komplex herrscht Siesta-Stimmung. Dafür, dass man hier um zehn Uhr morgens mit dem Trinken anfängt, wirken alle extrem nüchtern. Den Animateurinnen, die am Pool Aerobic-Schritte zu Katy Perry vormachen, wird nur schläfrig von den Liegen aus zugewunken. Vor mir entfaltet sich das Angstszenario der deutschen Renten-Politik in erschreckender Deutlichkeit: Die demographische Adipositas der Früh-Rentnerinnen, die in Zukunft auf den Zahnstocher-Beinen der Generation Z stehend, noch zum Tanztee antreten wollen.

In dieser Umgebung fällt es mir so leicht, mich jung zu fühlen, dass ich schnell gemütlich werde: El Arenal ist doch viel zu voll und laut. Im Dorf-Restaurant bei Trüffelschaum-Ravioli kann ich die Konstitution der Jugend deutlich besser reflektieren.

„Schaumparty“, meinte Karla neulich auf Simons Geburtstag. Das schreibe ich als erstes Schlagwort in mein Notizbuch, bevor ich zum Studium der Nachspeisenkarte übergehe. Vielleicht fange ich zunächst mit der im Hotel beworbenen „Minidisco“ an, die mir Hoffnung gibt, noch ein paar marodierende Abifahrt-Bros anzutreffen.

Beim Espresso dämmert mir jedoch, dass sich unter dem Label „Minidisco“ vermutlich nur ein abendliches Entertainment-Programm für Kinder verbirgt, damit die Eltern zu ihrem Urlaubs-Sex kommen. Wie es sich für einen einsamen Hotelgast gehört, sollte ich während der Minidisco einmal durch die Gänge schleichen und lauschen, ob es irgendwo verdächtig keucht. Mit großer Wahrscheinlichkeit würde ich im Endeffekt nur das Ächzen des Bergdoktors hören, weil man unter dem Druck des genau getimten Schäferstündchens doch lieber schnell den Fernseher einschaltet.

Ich will das weder verurteilen, noch mokieren. Der Impuls, Fernsehen über Sex zu stellen, ist mir tatsächlich aus eigenen Beziehungen bekannt. Damit stehe ich jedoch klar auf Seite der Dreißigjährigen. Und das ist ein Problem innerhalb des Vorhabens, 19 zu sein.

Überhaupt: Die Sache sieht ja schon von Grund auf aus, wie redaktionell angelegt. Versteckte Kamera quasi. Zwei dreißig Jährige Typen, die auf 19 machen, schließen sich einer Clique an und machen den ganzen obligatorischen Kladerradatsch mit, halt irgendwas Richtung Schaumparty. Nicht ganz so creepy, wie es klingt. Aber schon unangenehm. Ein bisschen nackte Haut soll ja auch dabei sein. Zuletzt wird alles dadurch entschuldigt, dass man den Betrogenen auf die Schulter klopft: Winkt mal für die Zuschauer. 

Ich sehe schon kommen, dass ich am Ende nur ein Buch schreibe, über ein Buch, das ich nicht schreibe – Kernbusiness der Konkurrenz vom Deutschen Literatur-Institut Leipzig. No offense, aber dort ist es ja die gleiche redaktionelle Schiene, nur umgekehrt: Jung sein und um jeden Preis alt wirken wollen. Einen Kochzirkel organisieren: die Schaumparty für Boomer.

Beides gilt es, zu vermeiden. Die redaktionelle Schiene führt immer in die falsche Richtung. Nicht jung sein und alt wirken. Nicht alt sein und jung wirken. Sondern jung sein. Einfach jung sein. Also: EHRENLOS JUNG SEIN.

Sicher: Peter und ich bewegen uns auf einem schmalen Grat. Sobald wir schauspielen ist es deutsches Fernsehen. Um genau zu sein: Von amerikanischem Fernsehen kopiertes deutsches Fernsehen – weit entfernt von jung – und damit gerade die passende Überbrückung für das Verlegenheitsvakuum während der Minidisco.

Nach El Arenal fahre ich nicht mehr. Um die Reise irgendwie doch noch im Sinne der Recherche zu nutzen, entschließe ich, erst einmal mit den vorliegenden Mitteln zu arbeiten: Wieso den Boomer-Methoden der Verjüngung keine Chance geben? Vielleicht bewirken sie ja doch was. Das Dorf ist voller Massage-Salons und gegen meine dauernden Rückenschmerzen wollte ich ohnehin etwas unternehmen.

In der Lobby des VIP CHINESE HEALTHY MASSAGE SPA werde ich etwas unschlüssig.

„Massage. There. You want massage?“

„I‘m not sure, I was just looking.“

Die Masseurin blickt mich erwartungsvoll an.

„Okay“, ringe ich mich durch. Ich werde in ein kleines Zimmer am Ende des Flurs geführt.

„Make free.“, fordert die Masseurin.

„Should I undress?“

Mir ist das Protokoll unbekannt – ich bin zum aller ersten Mal bei der Massage.

„Yes, yes, make free.“

Ein wenig befangen ziehe ich mich bis auf die Unterhose aus. Sie macht eine Geste: Unterhose auch ausziehen.

„Make free.“

„Okay“

Ich lege mich mit dem Bauch auf die Pritsche. Die Masseurin schmiert meinen Rücken mit Öl ein und beginnt, zu massieren. Es sind sanfte Berührungen. Ich hatte erwartet, dass sie an die Knoten in der Schulter richtig rangehen würde. Während sie mich so streichelt, keucht sie ein bisschen, beugt sich mit dem Oberkörper weit vor, sodass ihre Brüste meinen Rücken berühren. Übertreibe ich damit, sexuelle Aufgeladenheit wahrzunehmen? Sicher spielt mein dirty-mind mir hier einen Streich: Ist ja auch nicht unbedingt ein Stöhnen, mehr ein schweres Atmen.

Die Masseurin beginnt meine Beine einzuölen. Streichelt sie sanft. Wandert das rechte Bein hoch bis zum Po. Massiert auch ihn. Ich fühle mich direkt jünger, zumindest jugendlich verunsichert. Die Hand hebt sich, beginnt erneut beim linken Fuß, wandert wieder hinauf bis kurz vor den Po, knetet ein wenig und wandert zurück. Diese Art zärtlicher Massage könnte sehr schön sein. Nur ist mir die Situation so unklar, dass ich es nicht genießen kann. Auch würde ich jetzt sehr ungern einen Ständer bekommen. Die Hand der Masseurin ist wieder beim rechten Bein. Einmal berührt sie flüchtig meinen Hoden. Kein Anlass zur Verunsicherung, sage ich mir, ein Zufall.

Dann wandert die Hand allerdings eindeutig in meinen Schritt. Nicht überplötzlich – und doch unerwartet. Ich erstarre. Muss ich jetzt was sagen? Will ich abbrechen oder würde es mir vielleicht sogar gefallen?

Die Masseurin greift nach meinem Penis, der etwas eingeknautscht über den Hoden liegt und zieht ihn nach unten raus. Jetzt bekomme ich doch einen Ständer. Es gefällt mir nicht. Ich drehe mich um, richte mich ein wenig auf und sehe sie an. Sie hat ein Bein angewinkelt auf die Pritsche gehoben, ihr Minirock breitet sich darüber aus.

„I‘m a bit confused. I was not expecting this.“

„Yes, nice.“

„Actually I just want a massage.“

„No happy end?“

„No happy end. Just a massage.“

Die Anspannung legt sich. Mein Penis auch. Gut, dass er meinen Worten nicht zu widersprechen versucht.

„But very good happy end.“

Sie macht eine Masturbationsgeste in der Luft: Präzise, sehr schnelle Auf-und-Ab-Bewegungen der zum Ring geformten Hand.

„Very good.“

Die wiederholte Handgeste führt vor, wie resolut und effektiv sie ist.

„No. Thank you.“

Sie steht auf, nimmt ihr Handy, öffnet den Taschenrechner und tippt. 30 + 50. Zeigt mir die Zahl. 80. „I‘m very good.“

„No. I don‘t want a happy end.“

„Okay.“

Sie tippt wieder. 30 + 30 = 60. „I make special price.“

„No. Really…“

30 + 20 = 50, aktualisieren ihre flinken Finger das Angebot.

„No happy end. Just a massage.“

Endlich akzeptiert sie, dass wir nicht ins Geschäft kommen. Die Massage ist vorbei, ich darf aufstehen.

„You very long.“, sagt sie in Bezug auf meine Körpergröße und lächelt mich an, „Beautiful man.“

Beim Verlassen des Massage-Salons atme ich auf. Das Öl schmiert unangenehm in der Kleidung und mein Herz schlägt schnell, doch ich bin erleichtert.

Während ich ursprünglich Anschluss an die Gen-Z suchen wollte, habe ich in der boomermäßigsten Urlaubs-Aktivität überhaupt – bei einer Happy-End-Massage – unerwartet Jugend gefunden: Es war ein erstes Mal mit der ganzen, schönen Unbeholfenheit erster Male. Allein mein Rücken ist immer noch so verspannt wie der eines 30-jährigen Büro-Yuppies.