Eine Rolex Oyster Perpetual Datejust mit geriffelter Lünette und bicolor Jubilee-Band.

Vor dem Ehemaligen-Treffen zum zehnjährigen Abitur bin ich mit zwei Freunden im Restaurant verabredet. Ohne besonderen Anlass überreicht Matthes mir ein Geschenk: Ein Rolex-Imitat, das sein Opa auf einer Asienreise gekauft hat. Es kommt im passenden Augenblick. Bei Ehemaligen-Treffen geht es schließlich darum, sich als möglichst erfolgreich zu profilieren. Ich lasse die kaputte Casio schnell in meiner Manteltasche verschwinden und schmücke mich mit dem neuen Statussymbol.

Unter den vielen arrivierten Menschen, die ich seit einer Dekade nicht gesehen habe, versäume ich keine Gelegenheit, die Rolex jedem, der nicht danach gefragt hat, unter die Nase zu reiben.

„Eine Datejust mit Bicolor-Band“, erkennt einer und lobt zumindest die Qualität der Fälschung. Auf dem freien Markt gebe es das Modell gar nicht mehr in der Form. Autorität in dieser Frage steht ihm dadurch zu, dass seine Rolex echt ist.

Ein anderer Stufenkamerad, der nicht einmal genau hinsieht, bemerkt beiläufig: Wie witzig, sein Bruder habe genau dasselbe Modell.

Ich bin verdattert. Während ich mit der Uhr zu glänzen hoffte, scheint eine Rolex zum absoluten Minimum zu gehören. Auch mein Standard-Move, mit meinem iPhone 13 Pro zu prahlen, scheitert. Unbeeindruckt wird mir ein 13 Pro Max entgegen gehalten.

Immerhin eine gewisse Aura hat die Rolex doch. Denn wer Fake-Ice auf seiner Uhr trägt, dem klebt wahrscheinlich auch Kunst-Schnee an der Kreditkarte. Einer fragt mich hoffnungsvoll, was mich statt Alkohol so munter halte und ob ich davon noch was hätte. Ein anderer bietet mir unverblümt Koks an.

Obwohl ich womöglich mit Profit vermitteln könnte, verabschiede ich mich lieber auf Toilette. Die auf dem Silber-Spiegel ausgestreute Reprise, meine Nase pudern zu gehen, verkneife ich mir.

Am Pissoir steht einer neben mir, mit dem ich nie viel zu tun gehabt habe. Er fragt, ob wir nicht jetzt, da wir hier so zu zweit seien, einfach mal unsere Penisse aneinander halten sollen.

„Also Schwanzvergleich?“, frage ich. Seine Energie gefällt mir.

„Meintewegen.“

Ich bin ein bisschen aus der Übung. Zuletzt stieg ich vor vier Jahren mit ein paar Freunden in den Ring. Wir kamen gerade aus einer asiatischen Gay-Karaoke-Bar und beschlossen, spontan gegeneinander anzutreten. Mitten auf dem Rudolfplatz ließen wir reihum die Hosen runter. In einem strapaziösen Schwanzvergleich-Match, in dem mal ich, dann wieder die Gegenseite Oberhand gewann, siegte ich schließlich. Zwar trat ich gegen eine Freundin an, die gar keinen Penis hatte, doch das schmälert die Leistung nicht. Mit geschwollener Brust machte ich einen Triumphmarsch durchs Hahnen-Tor, den Kölner Walk of Cock. Wer meinen Sieg mit dem Einwand klein reden will, es sei kein fairer Kampf gewesen, klingt in meinen Ohren etwas transphob und gestrig.

Vor dem Pissoir lebt nun mein Ehrgeiz wieder auf. Obwohl ich fürchte, dass die Karten hier anders gemischt sind und mein Modell neben seinem Pro Max wieder etwas klein aussieht, bin ich bereit zu dieser Ultima-Ratio in Status-Fragen. Schenkt man der landläufigen Meinung Glauben, ist das ohnehin der Kern der Rolex-Philosophie. Doch meinem Gegenüber geht es gar nicht um Wettbewerb, sondern eher um eine Art Friedensschluss.

„Ne, kein Schwanzvergleich“, sagt er, „Einfach nur so aneinander halten, dass sich die Eicheln berühren. Du hast ja auch in Berlin gewohnt, da machen das doch alle so.“

„Also so eine Penis-Bruderschaft?“

„Ja“

„Klar, lass machen“

„Okay“

Wir sind ungefähr zeitgleich mit pinkeln fertig, schütteln ab, stehen einander gegenüber und sehen uns an.

„Also machen wir das ernsthaft jetzt?“

„Kein Plan, wieso nicht?“

„Okay. Echt?“

„Ja, ist doch witzig.“

Wir sind kurz davor, auszupacken, da knickt er ein. Er sei doch noch nicht betrunken genug.

Schade, dass mir dieses homoerotische Abenteuer entgeht. Dafür knutschen Matthes und ich später auf der Tanzfläche rum. Er ist ja jetzt mein Sugardaddy, der mir Uhren schenkt. Im Restaurant hat er auch schon gezahlt. Da ist es nur gerecht, wenn ich mich der Toyboy-Rolle füge. Sein Bart kratzt, doch er küsst ziemlich gut und das rundet den Abend angenehm ab.

Von da an wird die Rolex fester Bestandteil meiner Garderobe. Sie ist ein echter Männermagnet. Überall werde ich von Typen angesprochen. In Kneipen, im Zug, im Supermarkt. Einer, der vor meinem Stamm-Kiosk abhängt, ist begeistert: Sein Vater habe auch eine Fake-Rolex getragen.

Besonders nette Bekanntschaft mache ich nachts mit einem Franzosen am Hansaring. Er bittet um Feuer. In der Hoffnung, meine Bahn noch zu erwischen, halte ich ihm ungeduldig das Feuerzeug hin. Doch er regt sich nicht, starrt ewig auf meine Hand, als warte er darauf, dass ich die Zigarette anzünde. Ich gestikuliere, er möge doch endlich das Feuerzeug nehmen. Das reißt ihn schließlich aus der Hypnose. Er entfacht seine Zigarette und grinst mich an. Als ich in Richtung U-Bahn aufbrechen will, stellt er sich mir in den Weg. Ob ich aus Deutschland sei? Ich müsse ihm unbedingt Rapmusik empfehlen.

„Sure“, sage ich. Dann nehme ich halt die nächste Bahn.

„Did you see the brazil game?“

„No, actually I’m not into soccer.“

„You know Neymar“, sagt er und hält mir die Hand zum Einschlag hin, „Look, look, Neymar!“

Ich gebe ihm ein High-Five. Er greift meine Hand, hält sie fest und tritt an mich heran, um mir irgendwie körperlich zu demonstrieren, wie Neymar macht.

„Yeah“, sagt er, legt mir seinen rechten Arm um den Hals und dreht mich in eine Judo-Stellung ein.

„This is Neymar.“

Noch begreife ich nicht so recht, was daran Neymar ist, doch der Typ hat mich jetzt so fest im Griff, dass ich mich nicht mehr bewegen kann.

„Yeah Neymar“

Im Bruchteil einer Sekunde hat mein neuer Freund den Verschluss der Rolex gelöst. Bei dem Versuch, sie über mein Handgelenk abzuziehen, verhakt sie sich.

„It’s a fake“, erkläre ich lachend.

„No, just a magic trick“, erwidert er, anscheinend gekränkt über die Suggestion, er habe meine Uhr stehlen wollen, „A magic trick.“

Schließlich entlässt er mich aus dem Schwitzkasten.

„I show you a magic trick.“

Er will, dass ich ihm die Rolex gebe. Nachdem ich aufzeige, dass es sich um eine Fälschung handelt, muss er plötzlich aufbrechen. Deutschrap möchte er nicht mehr empfohlen bekommen.

Der Verlauf unserer kurzen Freundschaft gibt mir zu denken. Doch bis zu dem Tag, an dem mir jemand einen Zaubertrick vorführt, bei dem mein Jochbein erst gerade und dann auf einmal schief sitzt, bleibe ich ein süffisanter Toyboy, der es vielleicht ein bisschen verdient. Aber warten Sie. Bevor Sie sich nun legitimiert sehen, mir Gewalt anzutun: Gewinnen Sie lieber einen Schwanzvergleich gegen mich – dann überlasse ich Ihnen die Uhr freiwillig.

Als mich auf dem Heimweg eine Frau nach der Zeit fragt, komme ich in Verlegenheit. Ich muss zu meinem Handy greifen.

„Sie haben doch eine Uhr.“, sagt sie.

„Ja, aber die funktioniert nicht.“

„Wozu tragen Sie die dann?“

„Ja“, sage ich, „Das ist so ein Zaubertrick, verstehen Sie? Eine Uhr, die etwas zeigt… Keine Ahnung. Eine Uhr, die jedenfalls keine Zeit zeigt. Ein magic trick.“